Das Auge des Rationalismus

Revue der Thesen: der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich recycelt sich in „Das forschende Auge“ selbst  ■ Von Ulrich Clewing

Nach Wittgenstein-, Erasmus-, und Hegel-Preis ist dem 85jährigen Kunsthistoriker Sir Ernst H. Gombrich auch der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt verliehen worden. Wie bei den meisten Ehrungen soll es sich für beide Seiten lohnen: Gombrich ist um 50.000 Mark reicher, die im Kulturetat arg eingeschrumpfte Mainmetropole kann für einige Zeit am Ruhm einer internationalen Koryphäe teilhaben. Schließlich gehört der gebürtige Wiener Gombrich, der 1936 vor den Nazis nach England floh, wo er seither lebt, zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs.

Und es scheint, als hätte die Jury ihre Aufgabe diesmal mit besonderem Hintersinn gelöst. Man kann sie nämlich durchaus vergleichen in ihrem Hang zum Bodenständigen, Goethe und Gombrich, jeder auf seine Weise, versteht sich. Der langjährige Direktor des renommierten Londoner Warburg-Instituts gilt als einer der „Rationalisten“ der kunstgeschichtlichen Forschung. Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, daß Gombrich einer derjenigen war, die die Kunstgeschichte zu dem gemacht haben, was sie heute ist: eine historische Wissenschaft, die sich nicht allein darauf beschränkt, einzelne Werke mittels einer mehr oder weniger gefühlsduseligen „Kennerschaft“ in Stilrichtungen und Epochen einzuteilen.

Pünktlich zur Verleihung des Goethe-Preises hat jetzt der Campus Verlag Gombrichs neuestes Buch vorgelegt. „Das forschende Auge – Kunstbetrachtung und Naturwahrnehmung“, so der vollständige Titel, enthält fünf Essays aus den Jahren 1967 bis 1988. In ihnen setzt sich Gombrich noch einmal mit dem Thema auseinander, das ihn Zeit seines Forscherlebens beschäftigt hat: dem Sehvorgang. Angeregt durch die Experimente von Wahrnehmungspsychologen wie seinem alten Freund Ernst Kris oder dem Amerikaner James J. Gibson, formulierte er schon früh sein Credo, wonach alles Sehen und Erkennen abhängig sei von der Erwartungshaltung des Betrachters. Objektivität, der „unvoreingenomme Blick“, für Gombrich sind das Dinge der Unmöglichkeit. Man kann es verkürzt auch so sagen: Kunst ist immer in nicht unerheblichem Maße reine Geschmackssache.

Folgenreich auch Gombrichs Untersuchungen zur Perspektive: Er fand heraus, daß alle optischen Reize, die das Auge empfängt, vom Gehirn unverzüglich auf ihre Wiedererkennbarkeit hin überprüft und gegebenenfalls solange buchstäblich zurechtgerückt werden, bis sie sich in den bereits vorhandenen (visuellen) Erfahrungsschatz des Einzelnen einordnen lassen. Optische Gesetzmäßigkeiten spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Der Betrachter biegt die Perspektivkonstruktionen in einem Tafelbild so lange zurecht, bis er darin eine hinreichende Wahrhaftigkeit erkennt.

Selbst eine ausdrückliche Absage an die „korrekte Perspektive“ (die es, wie Gombrich zeigt, eigentlich gar nicht geben kann), wie sie sich in der Kunst der Romanik zeigt, war nicht die primitive Vorstufe auf dem Weg zu den künstlerischen Höchstleistungen der Gotik und der Renaissance, sondern eine grundsätzliche und bewußt getroffene Entscheidung. Daß Gombrich damit auch Abschied nimmt von einer rein eurozentristischen Sehweise und die Kunstgegenstände außereuropäischer Kulturen aufwertet, wird in Fachkreisen bis dato gerne übergangen.

Was die Lektüre von „Das forschende Auge“ so fesselnd macht, ist Gombrichs unprätentiöse, direkte Art, die sich auch in der Auswahl der Abbildungen niederschlägt. Bis auf die Illustrationen des vierten Kapitels über Raumwahrnehmung, die eilig und uninspiriert wirken, sind die Beispiele sehr gelungen. Zur Veranschaulichung des Problems von „Symmetrie, Wahrnehmung und künstlerischer Gestaltung“ etwa dient ihm Raphaels monumentales Fresko der „Disputa“ ebenso wie eine Ansichtskarte aus den österreichischen Alpen oder Beispiele des Ikebana, der japanischen Kunst des Blumenbindens. Bei Gombrich hat das Interesse für die – Achtung! Modewort! – künstlerische Peripherie seit langen Jahren Methode. Nicht umsonst war eine seiner ersten Publikationen eine Abhandlung über die Entwicklung der Karikatur, er schrieb eine erst kürzlich neu aufgelegte „Weltgeschichte für Kinder“. Sein bekanntestes Buch, die „Story Of Art“ war ursprünglich für jugendliche Leser gedacht. Dahinter steht freilich die Souveränität des präzisen Denkers. Nichts ist schwerer, als komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen.

Andererseits sind Gombrichs „Schüler“ in der Disziplin „Rationalismus“ nicht untätig geblieben, besonders auf dem Gebiet der soziohistorischen Bildanalyse. Peter Burke, Martin Warnke oder Wolfgang Wolters, um nur eher willkürlich drei Protagonisten dieser Forschungsrichung zu nennen, haben in ihren Untersuchungen zum Verhältnis von künstlerischem Ausdruck und politisch-ökonomischer Macht sicherlich die derzeit interessantesten Überlegungen zu den weiterreichenden Kontexten von Kunst veröffentlicht. Den Schritt, ein Kunstwerk nicht bloß als ästhetischen Gegenstand zu interpretieren, sondern es auf die Absichten der Auftraggeber hin zu prüfen und als Projektionsfläche für ganz handfeste Machtansprüche zu erkennen, hat Gombrich nicht vollzogen. Aber er hat das Fundament dafür gelegt.

Ernst H. Gombrich: „Das forschende Auge. Kunstbetrachtung und Naturwahrnehmung“. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 1994, 134 Seiten.