: „Welch ein großartiges Volk!“
Die Rückkehr des vor drei Jahren gestürzten haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wurde frenetisch gefeiert / Aber vor dem Heimkehrer liegt noch ein Berg von Problemen ■ Aus Port-au-Prince Andrea Böhm
Das Priestergewand ist zu lang und zieht eine Schleifspur über die staubige Straße vor dem Präsidentenpalast. Der kleine Mann scheint es überhaupt nicht wahrzunehmen. Wie hypnotisiert folgen seine Augen hinter der großen Brille dem Meßkelch, den er in seinen ausgestreckten Armen hält. Um ihn herum, in einem Respektabstand von etwa einem Meter, tanzen und singen die Menschen. „Willkommen, Titid, willkommen, Titid, wir lieben dich, Aristide.“
Dann bleibt er plötzlich abrupt stehen, grinst und zieht sich mit zwei Fingern ein Augenlid herunter – jenes Merkmal, das bei seinem großen Vorbild oft einen müden oder verklärten Blick hervorruft. Fontus, ein zwölfjähriger Bengel aus der Cité Soleil, spielt die Rolle des Priesters und Präsidenten zur Erbauung des umstehenden Publikums mit Hingabe und Perfektion.
Als der echte Aristide zwei Stunden später mit einem US- amerikanischen Hubschrauber auf dem Rasen des Präsidentenpalasts landete, da schrie sich Fontus vor Begeisterung die Lunge aus dem Hals, obwohl er gar nichts sehen konnte. Die Plätze direkt am Gitter des Palasts waren seit Stunden besetzt. Wer einen Stehplatz in der ersten Reihe ergattert hatte, lief allerdings Gefahr, von der Masse schier erdrückt zu werden.
Selbst im schwarzen Anzug wirkte Jean-Bertrand Aristide seinem kleinen Imitator durchaus ähnlich. Die Präsidentenschärpe um seine Schulter schien zu groß, sein Blick wirkte etwas ungläubig, als er gemessenen Schritts seinen Landsleuten zuwinkte. Vor fast genau drei Jahren hatte er in Handschellen am Flughafen gesessen, umgeben von Soldaten, die ihn beschimpften und verhöhnten. Die Botschafter der USA, Frankreichs und Venezuelas hatten damals in letzter Minute seine Hinrichtung verhindert und den Putschisten abgehandelt, den gestürzten Präsidenten nach Venezuela ausreisen zu lassen.
Folglich erschien es einigermaßen bizarr, daß am Tag seiner Heimkehr haitianische Truppen im Rahmen des Protokolls wenige Meter vor dem Präsidenten aufmarschierten und das Gewehr präsentierten. „Keine Angst“, sagte ein amerikanischer GI, „die haben keine echten Kugeln mehr.“
Das Volk hingegen wurde auf Abstand gehalten. Ihr „Titid“ war durch eine kugelsichere Glaskabine und rund fünfzig Meter Rasen von ihnen getrennt, auf dem amerikanische Soldaten und Sicherheitsbeamte in Zivil Stellung bezogen hatten. Gut ein Dutzend haitianische Polizisten waren an diesem Tag zum Dienst am Präsidentenpalast erschienen. Wann immer sie in ihren blauen Uniformen im Gänsemarsch auf dem Rasen auf- und abmarschierten, hob die Menge zu einem Schmähkonzert an – eine Art Katharsis für all den Terror, den diese Männer noch vor wenigen Wochen verbreiteten. „Haut ab, schert euch weg, ihr habt hier nichts mehr zu sagen!“ Die internationalen Polizeibeobachter aus Jordanien, Argentinien und Bolivien nahmen das Schauspiel regungslos zur Kenntnis.
Oben auf dem Gästepodium hatten inzwischen im Schlepptau Aristides sein Kabinett, haitianische Prominenz und seine US- amerikanische Entourage Platz genommen – all jene, die ihn während seines Exils in den USA unterstützt hatten. Randall Robinson, Direktor der Lobby-Gruppe „Transafrica“, der mit seinem Hungerstreik im Frühjahr einen Wandel der Clintonschen Haiti- Politik mit herbeigeführt hatte; Vertreter des „Black Caucus“, der Gruppe schwarzer Abgeordneter im US-Kongreß, die sich zur stärksten Pro-Aristide-Lobby entwickelt hatte; und schließlich Jesse Jackson, der trotz glühender Hitze auf dem Podest auf- und abflitzte, dort ein Küßchen, hier eine Umarmung verteilte und gleichzeitig die unzähligen Kamerateams für potentielle Interviews im Auge behielt.
„Lang lebe Jesus, lang lebe Aristide!“
Warren Christopher, US-amerikanischer Außenminister, gab sich wie immer zugeknöpft und ungerührt – obwohl seine Regierung an diesem Tag in Port-au-Prince vermutlich mehr Glückwünsche und Liebesbekundungen erhielt als in ihrer gesamten Amtszeit in den USA. „Lang lebe Jesus, lang lebe Aristide, lang lebe Clinton!“ schmetterten zwei haitianische Sängerinnen zur Begrüßung in die Mikrofone. Und: „Dank der amerikanischen Armee, Dank der amerikanischen Armee!“ Auch Aristide pries die Führungskraft des US-Präsidenten, der nunmehr „die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern auf eine neue Grundlage gestellt hat“.
Das sind andere, neue Töne von einem Mann, der die USA früher als das „kalte Land im Norden“ bezeichnet und die meist freundschaftlichen Kontakte Washingtons zu den diversen haitianischen Diktatoren angeprangert hatte.
Noch kurz vor seiner Abreise nach Haiti konnte er der US- Presse entnehmen, daß der Führer und Begründer der paramilitärischen Terrororganisation FRAPH, Emmanuel „Toto“ Constant, auf der Gehaltsliste der CIA stand, als seine Gruppe im Oktober 1993 mit einer Demonstration am Hafen von Port-au-Prince die „USS Harlan County“ zum Umkehren bewegte – jenes US- Kriegsschiff, das im Rahmen des Abkommens von Governors Island die ersten 200 US-Soldaten nach Haiti bringen sollte. Das Debakel am Hafen war nicht nur das Ende des Abkommens, in dem die Putschisten ihren Rücktritt zugesagt hatten und Aristide eine Amnestie im Fall seiner Heimkehr. Es war auch eine der peinlichsten Schlappen der Clinton-Administration. Glaubt man Constant, dann haben die USA ihn nicht nur bis zum Frühjahr 1994 als „Informanten“ bezahlt, sondern durch den damaligen Militärattaché der US-Botschaft zur Gründung der FRAPH angehalten – als „Gegengewicht zum Extremismus Aristides“. FRAPH-Mitglieder hatten noch Tage nach dem Einmarsch der US-Truppen Aristide-Anhänger erschossen, verprügelt und durch die Straßen gejagt.
Diese Szenen sind – vorläufig – vorbei, seitdem die US-Armee Order hat, einzugreifen. In einer medienwirksamen Aktion durchsuchten US-Soldaten das FRAPH- Hauptquartier und starteten ihre Entmilitarisierungskampagne: Geld gegen Waffen. Constant rief auf einer von den USA organisierten Pressekonferenz seine Anhänger zur Ruhe auf und begrüßte die Rückkehr Aristides. In der Cité Soleil, dem größten Slum der Stadt, schenkte man solchen Worten keinen Glauben. „So viel Geld haben die Amerikaner gar nicht, um den Attachés alle Waffen abzukaufen“, sagte ein Mann, der wie fast alle Bewohner des Armenviertels in den letzten Tagen mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Die Slumbewohner haben inzwischen Wachtrupps organisiert, die nachts durch die Straßen und Schlammpfade der Cité Soleil patrouillieren.
An der Beliebtheit der US- Truppen in der Bevölkerung ändert das alles nichts. Trotz aller Warnungen in den USA, man solle die Armee nicht in den langwierigen Wiederaufbau einer Nation verwickeln, haben US-Soldaten einen Teil der alltäglichen Verwaltung und Infrastruktur des Landes übernommen – angefangen beim Schutz des Präsidenten und anderen polizeilichen Aufgaben über die Versorgung von Krankenhäusern mit Medikamenten, die Renovierung von Schulen bis zum Verteilen von Fußbällen in der Cité Soleil. US-Panzerfahrzeuge sind ständig von Haitianern umringt, die sich mit den Soldaten zu unterhalten versuchen, T-Shirts mit dem Konterfei Aristides, Zigaretten, Kaugummi oder handgemachte Puppen gegen Krankheit und anderes Unglück anbieten. Immer wieder tönt es aus den Militärfahrzeugen auf kreolisch zurück: Die Söhne haitianischer Einwanderer sind als US-Soldaten in die Heimat ihrer Eltern zurückgekehrt und parlieren mit den Umstehenden fließend in ihrer Sprache.
„Gewalt?“ – „Nein!“ „Versöhung?“ – „Ja!“
An diesem 15. Oktober 1994 hatten die GIs einen vergleichsweise ruhigen Tag. Befürchtungen, es könnte zu Anschlägen von Aristide-Gegnern kommen, bewahrheiteten sich nicht. Die Menschenmasse lauschte ungestört den Versöhnungsappellen ihres „Titid“, der allen Haitianern, auch den Soldaten und Offizieren, Frieden anbot. „Gewalt?“ rief Aristide. „Nein“, schallte es aus der Menschenmenge zurück. „Rache?“ – „Nein!“ „Versöhnung?“ – „Ja!“ rief die Menge. „Gerechtigkeit und Frieden?“ – „Ja!“ „Welch ein großartiges Volk“, sprach der Präsident, bevor er zu seiner ersten Kabinettssitzung im Präsidentenpalast verschwand.
Dort erwartete Jean-Bertrand Aristide ein gigantischer Berg an Problemen: Die Inflationsrate ist auf 60 Prozent gestiegen; die Staatskasse ist bankrott; das Embargo hat zahlreiche Fabriken zum Stillstand gebracht; die Stellung der Familienclans – der Mevs, Brandts, Madsens und d'Adeskis –, die die gesamte Wirtschaft des Landes untereinander aufgeteilt haben und maßgeblich an der Finanzierung des Putsches gegen Aristide beteiligt waren, ist unangefochten. Für ihre Imperien existierten bislang weder Steuerabgaben noch freier Wettbewerb.
Sie haben das Embargo nicht nur überstanden, sondern davon profitiert, indem sie den Handel mit den wenigen legalen Einfuhrgütern wie Nahrungsmittel oder Propangas monopolisierten. Dank ihrer Infrastruktur werden sie auch als erste von den internationalen Hilfsprogrammen profitieren, die nach der Rückkehr Aristides beginnen sollen. Und sie werden sich mit Händen und Füßen gegen wirtschaftliche und soziale Reformen, zum Beispiel durch eine Besteuerung ihres Reichtums, wehren. Allerdings gibt es jetzt keine Armee und keine Polizei mehr, die ihren Willen auf der politischen Bühne durchsetzen könnte.
Die „Einheit aller Haitianer, ob arm oder reich“, beschwor Jean- Bertrand Aristide bei seiner Rede vor dem Präsidentenpalast. „Einheit“ steht auf den meisten der Wandbilder in der Cité Soleil. Hand in Hand haben die Künstler da den „Bourgeois“, den Reichen, und den „Povr“, den Armen, gemalt. Den Mevs, Madsens, Brandts und d'Adeskis dürften solche Visionen kalte Schauer über den Rücken jagen. Aber das hält sie nicht davon ab, mit der Okkupationsmacht ins Geschäft zu kommen. Sie vermieten derzeit Teile ihres Großgrundbesitzes an die US-Armee für die Unterbringung von Truppen und Gerät.
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