Tschetschenien: Heftige Kämpfe um die Hauptstadt

■ Opposition stand kurz vor der Einnahme Grosnijs, zog sich dann jedoch zurück

Moskau (taz) – Die Truppen der tschetschenischen Opposition standen am Samstagnachmittag kurz vor der Einnahme Grosnijs. Nur sechs Kilometer vom Präsidentenpalast der Hauptstadt der kleinen Kaukasusrepublik entfernt, zogen sie sich dann jedoch überraschend zurück. Nach Angaben der Regierungsseite wurden die Oppositionellen, die dem Vorsitzenden des „Provisorischen Rates“, Umar Artuchhanow, unterstehen, „an den Stadtrand zurückgeschlagen“. Die Opposition sprach dagegen von einem „freiwilligen Rückzug in ihre Stützpunkte“. Nach Artuchhanow sei die Einnahme Grosnijs nur noch eine Sache von ein paar Stunden. „Unser Hauptproblem ist nicht, wie wir nach Grosnij reinkommen und es halten. Die Aufgabe ist es, diese Operation ohne Fehler und große Verluste nicht nur unter der Zivilbevölkerung, sondern auch unter den jungen Männern, die von Präsident Dudajew betrogen worden sind, zu schaffen“, sagte er.

Die Opposition erklärte, daß sie dem tschetschenischen Präsidenten eine „letzte Chance für eine vernünftige Lösung“ geben wolle. Wenn er jetzt zurücktrete, werde sie ihm sein Leben „garantieren“. Bei den Kämpfen am Wochenende wurden mindestens 20 Menschen getötet und dreißig verletzt.

Ruslan Chasbulatow, der von Jelzin verjagte ehemalige Sprecher des russischen Parlaments, baut sich unterdessen als Vermittler auf. Bisher unterstützte er die Aufständischen gegen Dudajew. Chasbulatow, der Russisch besser als seine Muttersprache beherrscht, verurteilte den Rückzug als „einen kriminellen Fehler, an der Grenze zum Verrat“.

Die Opposition hatte am Samstagmorgen den entscheidenden Angriff auf Grosnij angekündigt und ihre Truppen Richtung Stadtzentrum in Marsch gesetzt. Dabei stießen diese nach Angaben von Artuchhanow zunächst auf wenig Widerstand.

Die Regierungstruppen erhoben erneut den Vorwurf, russische Hubschrauber hätten an den Kampfhandlungen teilgenommen. Angeblich schossen sie zwanzig Raketen auf militärische und zivile Ziele. Als Beweis russischer Einmischung meldete Grosnij die Festnahme von 12 Offizieren der russischen Streitkräfte. Behauptungen, Moskau unterstütze die Anti-Dudajew-Allianz, wurden in letzter Zeit immer wieder erhoben.

Zweifel an Moskaus Parteilichkeit sind auch nicht angebracht. Dudajew hatte sich vor drei Jahren vom Zentrum losgesagt. In Moskau befürchtet man, ein Nachgeben in Tschetschenien könnte in der labilen Kaukasusregion Schule machen und auf Republiken wie Ossetien und Dagestan übergreifen.

Allerdings verfolgte Moskau nach einem gescheiterten und blamablen Sturzversuch Dudajews 1991 das Ziel, die dreckige Arbeit den innenpolitischen Gegnern zu überlassen. An die fünf Millionen US-Dollar erhielt Artuchhanow – offiziell für soziale Zwecke und um Renten zu bezahlen. Der Löwenteil des Geldes dürfte jedoch in Waffenkäufe geflossen sein. Die reguläre tschetschenische Armee hatte nach Angaben eines leitenden Kommandeurs Dudajews Schwierigkeiten gehabt, unter den Landsleuten auch nur einen professionellen Piloten aufzutun. Wie sei das der Opposition gelungen, wenn nicht mit fremder Hilfe?

Auch ökonomische Überlegungen leiten Moskaus Aktivitäten. Die gesamte Region ist reich an Erdölvorkommen. Lange Zeit gelang es Dudajew, mit der Verheißung eines tschetschenischen Kuwaits seinen Unabhängigkeitskurs gegenüber Moskau attraktiv zu machen. Klaus-Helge Donath