Blau-weißer Wahlkampf

Katerstimmung im Prenzlberg: Frühschoppen im „Pasternak“ mit wenig Politikpromille / Enttäuschung in Thierses Wahlbüro  ■ Von Barbara Bollwahn

Katerstimmung im „Pasternak“ am Wasserturm in Prenzlauer Berg, einen Tag danach: Dem Musiker Rainer brummt der Schädel. Aber nicht etwa wegen des Wahlkampfduells Wolfgang Thierse gegen Stefan Heym, sondern wegen einer durchzechten Nacht. Belustigt erzählt er seinem Freund Olaf, daß er gestern morgen neben einer Aubergine aufgewacht sei, die er sich im Suff noch gekauft habe, aber irgendwie vergessen haben muß. Mit einem morgendlichen Glas Weißwein versucht er, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

Zumindest kann er sich noch gut erinnern, warum er am Sonntag Thierse seine Erststimme gegeben hat. „Die PDS-Tunte Heym“, „diese Schwabbelperson“ sei doch eine Zumutung. Sein Freund aus Lichtenberg hat nach langem Hin und Her Jugendsenator Thomas Krüger mit der Erststimme bedacht. „Obwohl es mir schwerfällt, einen Freund in den Bundestag zu wählen“, habe er „Camillo“, dem Freund aus alten Leipziger Zeiten, den Gefallen getan. Ein zufällig am Tisch sitzender Student dagegen war gar nicht erst zur Wahl gegangen: „Eine niedrige Wahlbeteiligung hilft immer den kleinen Parteien“, ist er überzeugt. „Hier im Osten ist man fein raus, da ist die PDS ja keine kleine Partei“, lacht er und blinzelt in die Sonne. „Dieses Volk ist degeneriert“, seufzt der Lichtenberger und bestellt das nächste Bier.

Katerstimmung ganz anderer Art in Thierses Wahlbüro wenige Meter weiter. Zwischen Enttäuschung und Entschlossenheit, weiterzumachen wie bisher, hat Wahlhelfer Frank Henze den Schuldigen ausgemacht: Klaus Klages aus Bayern. Dieser hatte im Auftrag eines „großen Demokraten, der keiner Partei verpflichtet ist“, am vergangenen Mittwoch 120.000 Flugblätter in Prenzlauer Berg verteilen lassen, um einen drohenden PDS-Einfluß zu verhindern.

Werbefachmann Klages, angesteckt von dem rot-grünen Horrorszenario des Ideengebers P.K., der davon ausgegangen war, daß die FDP aus dem Bundestag rausfliegt und SPD und Grüne auf die PDS angewiesen sein würden, erdachte sich seiner Meinung nach ganz „pfiffige“ Flugblätter: „Wer gegen Kommunisten ist, wählt Sonntag Thierse. Keinen Heym- Vorteil für Gysi und Genossen.“ Für „ganz Vernagelte“ war jedem Flugblatt ein großer Nagel beigelegt. Auch wenn das Flugblatt als „Wahlaufruf für alle Demokraten“ gekennzeichnet war, glaubten die meisten Empfänger, es mit einem SPD-Wahlkampf der übelsten Sorte zu tun zu haben. Auch ein schnell gedrucktes „Aufklärungspapier“ konnte nicht mehr viel ausrichten.

Thierses Wahlbüro bekam jede Menge Briefe, in denen die Flugblätter als Grund angegeben wurden, nun doch nicht Thierse zu wählen. Da ist von Werbung „unter der Gürtellinie“ die Rede und von „abgehalfterter Agitationspropaganda eines NVA-Offiziers mit wendehälserischen Fähigkeiten“. Klages wiederum, angeblich „Demokrat von ganzem Herzen“, erhielt neben einem Nagel für seinen eigenen Sarg jede Menge „böse anonyme Anrufe“. Er kann darüber nur lachen. „Diese verknöcherten Kommunisten“ verstünden eben keinen Spaß. Er sei auch bereit, die ambulante Behandlung eines Anrufers, der sich beim Brieföffnen verletzt habe, zu übernehmen. „Wir wollten vermeiden, daß die Kommunisten das Zünglein an der Waage spielen können“, klärte er gestern die taz über die 80.000 Mark teure blau-weiße Werbekampagne auf. Und überhaupt könne er den ganzen Rummel nicht verstehen. „Vielleicht ist das zu hoch für die Ossis“, spottete er. Aufklärung erhofft er sich vom Chef der Ostberliner Verteilerfirma, der ihn diese Woche besuchen wird.

Auch Rainer, der Musiker, hatte die Nagelpost bekommen. Aber aus Angst, daß es eine Briefbombe sei, habe er den Brief gar nicht erst geöffnet.