■ Warten auf die Große Koalition
: SPD im Angebot

Gequälte Sieger, gutgelaunte Verlierer. Das Ergebnis vom Sonntag jedenfalls produziert paradoxe Reaktionen. Die SPD sieht sich auf einem langsam-konsequenten Weg nach oben, eine Perspektive, die passender gar nicht auf das Naturell ihres Spitzenmannes zugeschnitten sein könnte. Die Union hingegen, die jetzt mit aller Entschlossenheit Zuversicht demonstriert, weiß nur zu genau, daß selbst ihr enttäuschendes Ergebnis die ganze Wahrheit eher noch verschleiert. Ohne den Kanzlerbonus, der deutlich weniger einbrachte, als es die kohltrunkene Kampagne suggeriert hatte, gäbe es für die Union überhaupt nichts mehr zu gewinnen.

Es scheint, als hätten die WählerInnen den langen Auszehrungsprozeß der Regierungskoalition auf ziemlich boshafte Weise quittiert. Ihre Bestätigung – eine Strafe. Das konservativ-liberale Bündnis muß weiterregieren – hart am Existenzminimum. Doch ginge es nur darum, eine knappe Mehrheit über die Konfrontation mit der Opposition zu behaupten, die künftigen Probleme der Koalition hielten sich in Grenzen. Kritisch wird der schmale Vorsprung erst, weil mit ihm gefordert ist, was die FDP nicht bieten kann: Disziplin. Denn diszipliniert bis zur Selbstverleugnung waren die Liberalen ja lange genug. Jetzt stehen die Zeichen auf Profilierung, gegen den erdrückenden Partner, im Interesse der Existenzsicherung, um jeden Preis! Um den Preis der Koalition?

Ein schöner Circulus vitiosus. An ihm, so hofft die Opposition, wird sie noch viel Freude haben. Sie setzt auf die Selbstzerstörungskräfte der Regierung. Doch wie steht es um die künftige Aktionsfähigkeit „der Opposition“? Der Zehn-Stimmen-Vorsprung ist ja nur dann bedrohlich dünn, wenn SPD, Grüne und PDS zusammen agieren. Die aufbauende Rede von der „knappen Mehrheit“ jedenfalls unterstellt eine oppositionelle Konsistenz, die es so kaum geben wird. Zwar stellt sich der Zielkonflikt innerhalb der Opposition weniger scharf. Doch die Perspektive, gemeinsam das konservativ-liberale Bündnis unter Druck zu halten, kollidiert – ähnlich wie innerhalb der Koalition – mit den Profilierungszwängen der Beteiligten. So dürfte sich Scharpings Versuchung – mit der PDS gegen Kohl – in engen Grenzen halten. Ganz im Gegenteil, wird der SPD-Chef seinen neugewonnenen Status als Kanzler im Wartestand nur dann ausbauen können, wenn er die unbändige Kooperationsbereitschaft der PDS ins Leere laufen läßt.

Auch spricht nichts dafür, daß Scharping, seine im Wahlkampf kultivierte Distanz zu den Bündnisgrünen im Interesse einer gemeinsamen Oppositionsstrategie aufgeben könnte. Eher steht zu erwarten, daß die SPD künftig als Solistin agiert. Sie wird ihre Bundesratsmehrheit gezielt, aber nicht destruktiv einsetzen und – gegen alle Oppositionsrhetorik – auch ihre kooperative Haltung aus der vergangenen Legislaturperiode nicht einfach aufgeben. Ein Balanceakt: Angriff und Angebot. Scharping wird versuchen, der Union das Regieren maximal zu erschweren, und dennoch darauf achten, die Tür für ein Bündnis offenzuhalten.

Flüchten oder standhalten? Irgendwann in dieser Legislaturperiode, so das SPD-Kalkül, wird die Union unter dem Druck der Probleme aus der ruinös gewordenen Verbindung mit der FDP ausbrechen wollen. Sie dahin zu zwingen, ohne sich zugleich als Koalitionspartner unmöglich zu machen, diese Strategie wird das oppositionelle Selbstverständnis der SPD bestimmen. Bis zum Regierungseintritt. Denn der Machtwechsel, so die an 1966 geschulte Hoffnung der SPD, kommt auf leisen Sohlen. Daß er schon im Gang ist, hat das Ergebnis vom Sonntag gezeigt. Daß es ein reformpolitischer Wechsel werden könnte, dafür gibt es auch weiter keine Anzeichen. Matthias Geis