■ Das Wort nach dem Sonntag
: Noch vier Jahre? Kein Problem!

„Die Regierungszeit Alexander II. neigte sich ihrem trostlosen Ende zu.“ Mit diesem Satz beginnt Isaac Deutscher seine monumentale Trotzki-Biographie. So schön kann eine Betrachtung am Tag nach der Bundestagswahl nicht anheben. Zwar ist die alles zermalmende Schubkraft des Jahres 1990, die Kohl als Kanzler der deutschen Einheit triumphieren ließ, verbraucht. Aber auch nach dem vierten Wahlsieg in Folge verbreitet das Regierungslager nicht jenen stechenden Geruch, der von beginnender Fäulnis herrührt. Richten wir uns also auf eine weitere, volle konservative Amtszeit ein.

Es ist ein unangenehmes, zum Teil gefährliches, aber kein katastrophales Resultat. Entgegen der Ansicht, die von Propagandisten der CDU, aber auch von Partisanen eines rot-grünen Regierungsbündnisses verbreitet wurde, ging es am 16.10. um keine Richtungswahl, weder objektiv noch subjektiv. Dafür sorgten nicht nur Scharpings Anpassung, sondern die vorgängigen Entscheidungen der konservativen Regierung. In der wichtigsten Frage der deutschen Politik, dem Wie der Vereinigung, sind steinerne Tatsachen geschaffen worden, übrigens im Einvernehmen der beiden großen Parteien. Gemessen an den Folgewirkungen, mutete der Wahlkampfstreit, etwa über Form und Umfang des Solidarbeitrags, peripher an. So haben es auch die WählerInnen gesehen. Aber ist damit die deutsche Politik für die nächste Zukunft ausweglos präformiert? Und wenn nein, wie steht es jetzt, nach der Wahl, um die Chancen einer Alternative?

Noch niemals nach 1949 ist in Deutschland eine Regierung durch einen Wahlsieg der Opposition abgelöst worden. Erhardts Regierung stürzte 1966 angesichts der Wirtschaftskrise und wurde – mitten in der Wahlperiode – durch die Große Koalition ersetzt. Nach der Wahl 1969 wechselte die FDP den Partner, mit dem sie erfolgreich den Wahlkampf bestritten hatte. 1982 wiederholte sie das Manöver in umgekehrter Richtung. Offensichtlich ist es in unseren Breitengraden bisher unmöglich gewesen, ein oppositionelles politisches Lager so aufzubauen, daß unterschiedliche Wünsche nach politischer Veränderung gebündelt wurden und dadurch einen längerfristig wirksamen, stabilen Ausdruck fanden.

Man könnte diesen Sachverhalt mittels der Hypothese erklären, daß das deutsche Wahlvolk im entscheidenden Augenblick panische Angst vor dem dunklen Unbekannten empfindet, also mit schier unstillbaren Sicherheitsbedürfnissen. Aber eine solche Erklärung wäre nichts als ein völkerpsychologisches Stereotyp. Wäre es nicht sinnvoller, von der Asymmetrie auszugehen, die bei uns die Entwicklung gesellschaftlicher Bewegungen von der politischen und organisatorischen Kräfteformierung der Parteien trennt? Nicht die siegreiche Volksbewegung brachte nach 1918 die „Weimarer“ demokratischen und sozialen Rechte, diese wurden vielmehr nach deren Niederschlagung gewährt. Wie auch die Mitbestimmungsrechte im Betrieb nach 1949 nicht die Frucht einer erfolgreichen Arbeiterbewegung waren, sondern deren Niederlage besiegelten. Und war das „Mehr Demokratie wagen!“ nicht der allzuschwache Abglanz der radikaldemokratischen Forderungen, die die damals schon zerfallene APO in den 60er Jahren erhoben hatte?

Reminiszenzen dieser Art setzen sich einem naheliegenden Einwand aus: Wenn es so ist, daß 1990 die Würfel gefallen sind, dann geht es, so der Mainstream konservativer Vor- und Nachdenker, im weiteren nur noch ums muggling through. Jetzt das Fehlen eines „historischen“, mit gesellschaftlichen Bewegungen verbundenen Reformblocks zu beklagen verrate einen lächerlichen Anachronismus. Denn bei den ausschlaggebenden künftigen Entscheidungen sei der Spielraum so eng, daß rivalisierende Ansätze, soweit vernünftig kalkuliert, bei ähnlichen Lösungen landen müssen. Und die gesellschaftlichen Bewegungen, kommen sie nicht ebenso, wie sie gehen? („Vor allem gehen sie“, meint Ulrich Beck.)

Aber war es nicht so, daß Sozialdemokraten und Grüne schon einmal, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, mit dem Projekt des „ökologischen Umbaus“ zu einer konvergierenden Programmatik gefunden hatten? Und knüpfte dieses Projekt nicht an den gesellschaftlichen Bewußtseinswandel der Zeit „nach Tschernobyl“ an? Gab es nicht schon eine gesellschaftliche Mehrheit für den Ausstieg aus der Kernenergie, für eine ökologische Energiepolitik allgemein? Die Imperative der deutschen Einheit, die von den Grünen negiert und von der SPD nur zögernd aufgegriffen wurden, begruben das ganze Unternehmen. Ansätze wie die von André Gorz inspirierte neue Arbeitszeitpolitik verschwanden hinter einer ebenso hohlen wie unrealistischen Vollbeschäftigungs- Rhetorik. Aber heißt das, daß die Bausteine der Reform heute nicht mehr neu zusammengesetzt werden können?

Für eine solche Wendung der Dinge bietet das politische Führungspersonal der oppositionellen Parteien nach der Wahl des 16. Oktober die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Aber die neue politische Konstellation wird sie begünstigen. Kohl selbst hat mit seinem für 1998 proklamierten Rücktritt einen zeitlichen Rahmen gesetzt, der die öffentliche Einbildungskraft auf „die Zeit danach“ lenken wird. Knappe Mehrheiten im Parlament werden die Regierung Kohl an innenpolitischen Untaten ebenso hindern wie an außenpolitischen Befreiungsschlägen. Deshalb auch wird es innerhalb der Pro-Maastricht-Politik Kohls keine Schwankungen geben, und die Stunde der europafeindlichen Nationalisten im Regierungslager wird nicht schlagen. Die Zehn-Stimmen-Differenz im Bundestag hält die Möglichkeit des Wechsels wach, schärft das Bewußtsein für die Notwendigkeit, eine realistische Alternative aufzubauen.

Aber am wichtigsten ist, daß trotz der wirtschaftlichen Konjunktur das Mißvergnügen in der Bevölkerung wachsen wird. Hier liegt, bei ansonsten gänzlich anderen politischen Bedingungen, eine Parallele zu den frühen 60er Jahren. Erst kam sie leise, wie auf Taubenfüßen. Dann machte sich die Unlust am niedergehenden Adenauer-Regime in öffentlichen Eruptionen Luft – zuletzt kam die Krise. Viel spricht dafür, daß sich der damalige Mechanismus der Krisenlösung, die Große Koalition, nicht wiederholt. Denn anders als in der zweiten Hälfte der 60er Jahre muß die SPD nicht mehr den Nachweis „nationaler“ Soldarität als Junior der CDU erbringen. Weder Notstandsgesetze noch Stabilitätspakete sind zu verabschieden. Und für einen Großangriff auf die noch bestehenden Bastionen sozialer Sicherung wird die SPD nicht zu haben sein – aus schierer Selbsterhaltung.

Diejenigen, die leichtsinnig der Aufforderung der SPD folgten, und sich tatsächlich auf den Wechsel freuten, brauchen jetzt keineswegs der Depression zu verfallen. Der Horizont ist offener, das politische System durchlässiger. Machen wir uns die „große Unruhe unter dem Himmel“ zunutze. Christian Semler