Warum Kohl gewonnen hat

Die Deutschen wollten den Wechsel, aber nur ein bißchen. Und sie wollen Helmut Kohl, aber nicht überlebensgroß. Die Kanzlermehrheit hat bald drei Millionen Anhänger verloren, aber die Reformkoalition kann von sich aus keine Mehrheit zustande bringen. So hat die kollektive Vernunft der „Gruppen, Parteien, Völker“ entschieden, die politische Klasse wird sich auf die neuen Zeiten einstellen müssen.

Mehrheit ist Mehrheit – stimmt, Herr Waigel. Die nunmehr zweitstärkste Koalitionspartei, die CSU, wird den Kanzler zu gegebener Zeit daran erinnern. Aber der amerikanische Demokratieerzieher John Dewey hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der Weg, auf dem eine Mehrheit zustande kommt – durch vorangehende Debatten, durch die Veränderung von Sichtweisen und durch die Übernahme der Perspektive der unterlegenen Minderheit – ebenso wichtig ist wie die Mehrheit selbst. Der knappen Bestätigung der Kanzlermehrheit ging keine Debatte und erst recht keine Inbetrachtnahme der numerisch unterlegenen Position voraus. Die Begründung, warum Kohl Kanzler bleiben soll, muß jetzt nachgeliefert werden.

Die Kanzlermehrheit setzt sich im wesentlichen aus den Älteren, den Reicheren und den Vereinigungsgewinnlern zusammen. Helmut Kohl und seinem Finanzminister reicht diese Konstellation, aber sie rettet sie nicht einmal über eine Legislaturperiode hinweg. Der Koalition der Besitzstandswahrer gegenüber stand eine Regenbogenkoalition aus Verlierern, Pessimisten und Reformprätendenten. Kohls Botschaft an Ost- und Westdeutsche lautete: Wir sind auf dem richtigen Weg, macht euch keine Sorgen, ihr braucht euer Leben nicht zu verändern! Die Botschaft der Opposition lautete hingegen: Wir müssen einen anderen Weg beschreiten, es besteht Anlaß zur Sorge. So gut und unbekümmert wie bisher werden wir nicht weiterleben können! Solche Wahrheitsschmerzen! Es ist erstaunlich, wie viele diese Botschaft trotzdem dem Lullaby des Kanzlers vorziehen. Die strukturelle Mehrheit der christlich-liberalen Union ist in der Berliner Republik dahin, das Ende der Ära Kohl ist nicht zu früh ausgerufen worden. Die Volksparteien bleiben stark, aber sie stehen unter Kuratel – nicht der Juniorpartner, sondern des unkalkulierbaren Souveräns, der auch zwischen Bund und Ländern wohl zu unterscheiden weiß.

Das Superwahljahr hatte eine Außen- und eine Innenseite. Nach außen, im europäischen und Weltmaßstab, legt das wiedervereinigte Deutschland eine einzigartige Stabilität an den Tag. Kohl ist fast der einzige Amtsinhaber der achtziger Jahre, der noch im Sattel sitzt. Bush und Gorbatschow sind fast schon vergessen. John Major liegt dreißig Punkte hinter der Opposition. Mitterrand verabschiedet sich. In Italien hat eine Revolution mit ungewissem Thermidor stattgefunden. In Österreich und Benelux könnte eine Vendée bevorstehen. Überall, auch in „Kerneuropa“, ist die Christdemokratie, dieses Produkt des Kalten Krieges, zerfallen, nur in Deutschland hält sie sich auf hohem Niveau. So gesehen ist Kohl der Europa-Kanzler, und halb Europa hat ihn mitgewählt.

Draußen wirkt Deutschland immer noch wie ein Musterschüler: Die Wachstumsmaschine kommt besser als anderswo auf Touren, es ist weniger durch Staatsaffären und endemische Korruption beeinträchtigt, die Wahlbeteiligung bleibt hoch, und das Volksparteiensystem hat sich gefangen. Fragt sich nur, ob das Verdienste der Regierung sind, oder ob das Verdienst der Regierenden eher darin bestand, die Selbstregeneration der Systeme nicht allzusehr zu behindern. Deutschlands Problem ist nicht der Staatszerfall oder die Unregierbarkeit, sondern die Hyperstabilität der Gesellschaft, die gar kein Risiko mehr eingehen will. Aber auch mangelnde Flexibilität birgt Risiken in sich. Die aufgeschobene Quadratur des Kreises: Abbau der Staatsverschuldung, Umbau des Sozialstaats und ökologische Modernisierung müssen jetzt gelingen.

Die Opposition hat die Kehrseite der deutschen Stabilität und Kontinuität offenbart. Für ein neues Wachstumsmodell, für den Umbau des Sozialstaates, für die ökologische Modernisierung hat sie die besseren Ideen und Konzepte. Aber sie hat sich so präsentiert, als wolle sie nur das Schlimmste verhindern – Rechtsruck und Sozialabbau, außenpolitische Abenteuer, die ökologische Katastrophe, den finanzpolitischen Offenbarungseid oder auch nur die nächste Steuerlüge – statt das Bessere auch tatsächlich bewirken zu können. Kassandra gewinnt keine Wahlen.

Doch gleich welche Konstellation in den nächsten Jahren regierungsfähig ist (die Bundesratsmehrheit erzwingt ohnehin eine Art Große Koalition), die im Wahlergebnis zum Ausdruck kommende kollektive Vernunft des Souveräns darf nicht zur Verlängerung der Besitzstandskoalition mißbraucht werden. Sie muß vielmehr aus allen politischen Lagern die reformerischen Impulse aufgreifen und der weiteren Spaltung der Gesellschaft vorbeugen. Man darf gespannt sein, ob die „Modernisierer“ in der CDU noch zu einem Comeback fähig sind, und man ist auf die politische Klugheit der Grünen gespannt, wie sie die Große Koalition noch hintertreiben können. Die Festsetzung der PDS, dieser Lega Ost, die ihnen die Reformkräfte im Osten abzieht und im Westen eine fundamentalistische Laien-Opposition aus der Versenkung holt, ist dazu nicht gerade hilfreich. Claus Leggewie