: Kluft zwischen Ost und West
■ Die politischen Kulturen in Ost- und Westdeutschland entwickeln sich weiter auseinander. In den ostdeutschen Parlamenten ist das Dreiparteienparlament zur Regel geworden. Das ist das Ergebnis der aktuellen...
Die Regierungsparteien verdanken ihre Mehrheit praktisch allein den alten Bundesländern – 1990 hatten CDU/CSU und FDP noch in Ost und West mit etwa gleichen Stimmenanteilen von 53 Prozent klar vorne gelegen. Nun schlug ihnen eine Oppositionsstimmung vor allem in den neuen Ländern entgegen: Im Westen kamen Union und FDP zusammen auf 49,9 Prozent, im Osten hingegen nur auf 42,5 Prozent, bei nur vier Prozent für die FDP. Die Verluste des Regierungslagers waren im Osten rund zweieinhalbmal so groß (–12,6) wie im Westen (–4,8). Der Trend zu den Oppositionsparteien fiel entsprechend in Ostdeutschland deutlich stärker aus (+13,6) als im Westen (+5,4).
Die Stimmenwechsel in Ostdeutschland hatten zum Ergebnis, daß einzig in Sachsen eine Mehrheit für die christlich-liberalen Parteien übrig blieb. In allen anderen ostdeutschen Bundesländern erwiesen sich die Oppositionsparteien als die stärkere Parteienkombination. In Westdeutschland dagegen gibt es nur in den Bundesländern Bremen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland eine deutliche rot-grüne Wählermehrheit.
Auch in der Wahlbeteiligung gab es unterschiedliche Muster zwischen West und Ost: Im Osten sank die 1990 schon geringere Quote um –1,8 auf 73,7 Prozent. Im Westen stieg sie um 2,2 Punkte auf 80,7 Prozent. Trotz aller Fortschritte bei der Herstellung der inneren Einheit haben sich somit die politischen Kulturen in West und Ost bei der Bundestagswahl 1994 noch weiter auseinanderentwickelt.
Zu diesen Besonderheiten zählt auch die seit Jahrzehnten im Westen gewachsene Gewohnheit des Stimmensplittings, die der Zweitstimmenkampagne der Liberalen letztlich zum Erfolg verhalf: In Westdeutschland wählten nur 3,4 Prozent die FDP mit der Erststimme, aber 7,4 Prozent gaben ihr die Zweitstimme, deren Überhang im Vergleich zu 1990 noch etwas gewachsen ist. In den neuen Ländern hingegen (3,0 Prozent Erst- und 4,0 Prozent Zweitstimmen für die FDP) verspürten nur wenige Wähler Anlaß, den Liberalen mit taktischem Wählen über die Fünfprozenthürde in den Bundestag zu helfen.
Die Kampagne um mögliche PDS-Direktmandate hat aber punktuell – hier allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – auch die Ostdeutschen zu einem instrumentellen Umgang mit Erst- und Zweitstimmen motiviert. In den vier Ostberliner Wahlkreisen, die an die PDS gingen, stimmten ein Fünftel der Zweitstimmenwähler SPD (18 Prozent) und ein Viertel der Wähler von B90/Grünen (25 Prozent) für die PDS-Kandidaten. In der Stützaktion für die Ostberliner PDS-Kandidaten mit dem Ziel, die PDS als Vertreterin ostdeutscher Interessen auch weiterhin in den Bundestag zu entsenden, ist gewissermaßen eine „Wählerallianz“ im linken Lager zu erkennen, die der Wille zum politischen Wechsel eint. Andernorts kam dieser in dem starken ostdeutschen Trend gegen die Bonner Regierungsparteien zum Ausdruck.
Allerdings hatte der Wunsch nach einem Machtwechsel im Laufe des Wahljahres an Schubkraft verloren – von zwei Dritteln der Bürger zum Jahreswechsel sank er auf nur mehr 50 Prozent kurz vor dem Wahltag. Weit weniger als im Osten wurde die SPD im Westen als Motor für einen möglichen Wechsel nach vorne gebracht. Dies galt aber nicht in den großen Ballungsräumen, ursprünglich einmal SPD-Hochburgen, die jetzt zwischen Union und SPD umkämpft waren. In Hamburg, Hannover, entlang der Rheinschiene, im Raum Frankfurt und Stuttgart verloren die Regierungsparteien zwar in etwa wie im Westdurchschnitt, aber entgegen dem allgemeinen Trend stagnierte hier die SPD, wenn sie nicht gar Stimmen einbüßte – und hier verspielte sie möglicherweise damit die Chance zum Kanzlerwechsel.
In diesen Schwerpunkten der modernen Wählerschaft haben alle Altparteien an Wählerzuspruch verloren – ein Symptom dafür, daß die Krise des alten Parteiensystems längst nicht überwunden ist. Bündnis 90/Die Grünen bot sich hier die Chance, ihr Wählerpotential auszubauen. Die SPD büßte aber auch – und dies vorwiegend in Ostdeutschland – beträchtlich Stimmen an die PDS ein (gut 200.000). Die Abwanderungen an Bündnis 90/Die Grünen und PDS wurden indes reichlich kompensiert durch Zuwanderung von der Union (gut 700.000), von der FDP (etwa 600.000) und aus dem Lager der Nichtwähler (gut 600.000).
Auch die Union konnte mit ihrer Kampagne Wähler mobilisieren (350.000), dies allerdings nur im Westen. Weitere 500.000 Stimmen, die von der FDP zur CDU/ CSU wechselten und gut 50.000 von den „Republikanern“ blieben die einzigen Aktivposten. Ansonsten verlor die CDU/CSU in alle Richtungen; neben der Abwanderung an die SPD besonders kräftig auch durch den Generationswechsel (–600.000).
Anders als Union und SPD hatten die Liberalen Schwierigkeiten, ihre Klientel an die Wahlurnen zu bringen. Fast 300.000 Wahlberechtigte blieben gegenüber 1990 zu Hause, daneben waren Verluste an die beiden großen Volksparteien in annähernd gleicher Größenordnung (um 550.000) am gravierendsten.
Die Landtagswahlen in den neuen Ländern
Die Wähler in den neuen Bundesländern sehen offenbar in der Wahl der kleineren Parteien FDP und Bündnis 90/Grüne keine praktikable Alternative und orientieren sich auf die beiden großen Volksparteien der alten Bundesrepublik und die Nachfolgerin der staatstragenden Partei der untergegangenen DDR. Von Sachsen- Anhalt abgesehen, wo die Bündnisgrünen mit 5,1 Prozent ganz knapp den Einzug in den Landtag schafften, gibt es in den ostdeutschen Bundesländern nur noch Dreiparteienparlamente.
Da in Mecklenburg-Vorpommern und auch in Thüringen die Wahlentscheidung nicht so eindeutig wie in Sachsen und Brandenburg durch die Persönlichkeit des Ministerpräsidenten bestimmt wurde, verfügt nun in diesen beiden Ländern die Partei des bisherigen Regierungschefs über keine Mehrheit mehr.
In Thüringen hat sich die regierende CDU mit einem Stimmenanteil von 42,6 Prozent trotz Verlusten von 2,8 Prozentpunkten deutlich als stärkste Kraft vor der SPD mit 29,6 Prozent behaupten können. Die Zuwächse der SPD in Höhe von 6,8 Prozentpunkten hielten sich wohl vor allem deshalb in Grenzen, weil die PDS in der gleichen Größenordnung (6,9 Prozentpunkte) auf nun 16,6 Prozent der Stimmen zulegte. Der große Verlierer ist – nun bereits bei der neunten Landtagswahl innerhalb eines Jahres – die FDP, deren Stimmenanteil sich von 9,3 Prozent auf 3,2 Prozent drittelte. Die Bündnisgrünen verloren zwei Punkte und verfehlten mit 4,5 Prozent nur knapp die Rückkehr in den Landtag. Der CDU kam aber auch die von 71,8 Prozent gestiegene Wahlbeteiligung zu Hilfe. Sie konnte Verluste an die SPD in der Größenordnung von etwa 50.000 Stimmen zu zwei Dritteln durch Mobilisierung aus dem Nichtwählerlager ausgleichen. Hinzu kamen über 20.000 Stimmen früherer FDP- Wähler. Die FDP verlor außer an die CDU vor allem auch knapp 30.000 Stimmen an die SPD. Das Wählerstromkonto der SPD weist neben den Zugewinnen von den bisherigen Koalitionsparteien ein Plus von 20.000 durch Mobilisierung sowie von rund 10.000 durch Abwanderungen von den Grünen auf. Diese verloren ihrerseits weitere 15.000 Wähler an die PDS. In ähnlicher Größenordnung bewegten sich auch die Zugewinne für die PDS von der CDU und der SPD. Darüber hinaus mobilisierte die PDS 30.000 Nichtwähler.
Die Verluste der CDU weisen keine auffälligen regionalen Besonderheiten auf. Es ist jedoch eine gewisse Häufung von Verlustzonen im Westen und Norden des Landes zu verzeichnen. Insbesondere in Eichsfeld gibt es überdurchschnittliche Verluste. Diese Region bleibt jedoch die Hochburg der CDU in Thüringen schlechthin. Hier befinden sich die beiden einzigen Wahlkreise, in denen die Union noch über 50 Prozent der Zweitstimmen hat. Vor vier Jahren war das noch in elf Landtagswahlkreisen der Fall.
Die Zuwächse der SPD verteilen sich ebenfalls relativ gleichmäßig über das Land. Am geringsten fallen sie noch dort aus, wo die PDS besonders stark zulegte. 1990 hatte der für die SPD günstigste Wahlkreis einen Stimmanteil von 29,2 Prozent. 1994 gibt es in 20 Wahlkreisen SPD-Anteile von über 30 Prozent. PDS-Stimmenanteile von über 20 Prozent finden sich in neun Wahlkreisen. Der beste PDS-Wahlkreis hatte 1990 19,5 Prozent.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern hat sich der Bürger für ein Parlament mit drei Parteien entschieden, die sich gegenseitig bei der Regierungsbildung blockieren können. Die PDS ist mehr als ein Zünglein an der Waage im neuen Landesparlament: Sie ist ein Machtfaktor geworden. Ihre Attraktivität auch für frühere Nichtwähler wird in der Infas-Wanderungsbilanz eindrücklich belegt: Per Saldo konnte sie 36.000 Stimmen aus dem Lager der Nichtwähler mobilisieren.
Andererseits haben Bündnis 90/Die Grünen wohl ihre Chance verspielt, künftig im Lande mitzureden und einen möglichen Koalitionspartner für die SPD abzugeben. Die Wanderungsbilanz zeigt, daß vor allem die PDS das grüne Wählerpotential förmlich aufgesaugt hat: In Richtung PDS gingen per Saldo 13.000 Stimmen, an die SPD per Saldo rund 8.000 Stimmen verloren. Der FDP als bisherigem Koalitionspartner der CDU ist es ebenfalls nicht gelungen, sich als eine eigenständige politische Kraft zu etablieren. Im ganzen Land verliert sie einen gleichmäßig hohen Anteil, der sie in die Nähe der Bedeutungslosigkeit führt. dpa/taz
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