„Boris ist ein Protestant“

Seit der IRA-Waffenruhe in Nordirland haben die loyalistischen Organisationen Zulauf / Ihr Waffenstillstand ist ein Zeichen der Stärke  ■ Aus Nordirland Ralf Sotscheck

An der nordirischen Grenze beginnt die „Kontrollzone“: Für die nächsten fünf Kilometer darf kein Auto auf der Hauptstraße nach Belfast anhalten. Zu oft hat die Irisch-Republikanische Armee auf diesem Abschnitt Autobomben ferngezündet, und der IRA-Waffenstillstand von Ende August hat an den Vorsichtsmaßnahmen bisher nichts geändert.

Kurz vor der Hafenstadt Newry stößt man plötzlich auf einen Kontrollpunkt der britischen Armee, der an die frühere DDR-Grenze erinnert: Pfeiler, die auf Knopfdruck aus dem Boden hochschnellen; Krallen, die die Reifen zerfetzen, wenn man in der falschen Richtung darüberfährt; Kameras, die die heranfahrenden Autos erfassen, bevor eine Ampel die Richtung anzeigt: nach rechts zur Weiterfahrt, geradeaus in die Halle zum Filzen.

Von den Soldaten ist jedoch nichts zu sehen, kein einziges Auto wird angehalten – eine erste „Friedensdividende“, nachdem auch die loyalistischen Organisationen am vergangenen Donnerstag die Waffen niedergelegt haben? Irrtum: Die schmale Landstraße, die sich östlich von Newry durch die Hügellandschaft zieht, ist durch zwei Armeejeeps versperrt. Die Soldaten, die seit drei Wochen ihre Regimentsmützen statt der bis dahin üblichen Helme tragen, stoppen alle Wagen, kontrollieren die Papiere und fragen, wohin man unterwegs sei.

Loughinisland ist auf den meisten Landkarten nicht verzeichnet. „Früher mußte ich den Ortsnamen immer buchstabieren, wenn mich jemand gefragt hat, wo ich wohne“, sagt Bobby, ein Bauarbeiter, „heute zucken die Leute zusammen, wenn der Name fällt. Das Dorf ist aus den falschen Gründen weltbekannt geworden.“ Am 18. Juni stürmte eine Einheit der Ulster Volunteer Force in O'Toole's Bar, die einzige Kneipe im Dorf, und erschoß sechs Männer, die sich gerade die Übertragung des Fußballspiels zwischen Irland und Italien ansahen. Einer von ihnen, Barney Green, war 87, als er starb – das älteste Opfer des nordirischen Krieges. Die UVF behauptete in ihrem Bekennerschreiben, die IRA habe in O'Tooles Bar getagt.

„Bis zu jenem Tag hat der Konflikt in Loughinisland nicht stattgefunden“, sagt Pfarrer Bernard Magee. „Belfast war für die Leute weit weg, Derry noch viel weiter.“ In der Sakristei der modernen katholischen Kirche am Ortseingang hängen Weihrauchschwaden in der Luft, die Abendmesse ist gerade vorbei. 80 Prozent der 200 EinwohnerInnen sind katholisch. „Es hat nie Probleme zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gegeben“, sagt Magee, „und die abscheuliche Tat hat daran nichts geändert.“

Der Pfarrer, ein grauhaariger Mann Ende 60, hatte mit den „Troubles“ schon früher Bekanntschaft gemacht. „Als ich noch in Belfast arbeitete, versuchten Loyalisten, mich umzubringen“, sagt er und klopft sich auf den Kopf, was irgendwie blechern klingt. „Das ist eine Stahlplatte. Die Kugel sitzt noch im Gehirn, weil die Ärzte sie nicht herausoperieren konnten.“

Magee glaubt, daß der Waffenstillstand halten wird. „Die Unionisten haben ihr Plazet zu Gesprächen zwischen Sinn Féin und der britischen Regierung gegeben“, sagt er, „und wer redet, schießt nicht. Natürlich ist das ein schwieriger Prozeß, der wohl zehn Jahre dauern wird, aber das ist es wert.“ Londoner Regierungsbeamte haben angedeutet, daß der britische Premierminister John Major noch in dieser Woche den IRA-Waffenstillstand als „endgültig“ akzeptieren und damit den Weg für Verhandlungen ebnen wird.

Dennis ist weniger optimistisch. „Für die Unionisten ist Kompromißbereitschaft ein Fremdwort“, sagt er und nippt an seinem Whiskey. Er ist an diesem Abend der erste Gast in O'Toole's Bar, die aus zwei kleinen Räumen mit sechs Resopaltischen, ein paar Hockern und einem Kamin besteht. „Sie führen sich auf, als ob sie gewonnen hätten“, meint er. „Sie werden niemals einwilligen, über die irische Vereinigung überhaupt zu sprechen, das zeigt doch Paisleys Säbelrasseln.“ Der radikale Protestantenpfarrer Ian Paisley bezeichnete die gemäßigten Unionisten am Montag als „Verräter“ und behauptete, er habe Beweise, daß die IRA seit dem Waffenstillstand drei Schiffsladungen mit Waffen und Sprengstoff erhalten habe. Paisley sagte, Unionismus und Nationalismus seien „zwei unversöhnliche politische Philosophien“.

Keine 20 Kilometer nordwestlich von Loughinisland liegt Hillsborough, doch zwischen beiden Orten liegen Welten. Das protestantische Hillsborough, das von den „Troubles“ ebenfalls weitgehend verschont geblieben ist, strahlt Wohlstand aus: Die georgianischen Häuser sind gut in Schuß, die Straßen blitzsauber, und in den Schaufenstern liegen teure Handarbeiten und Antiquitäten aus. Kleine Schilder, die an den Laternen angebracht sind, drohen Hundebesitzern mit hundert Pfund Strafe, falls der Vierbeiner „Hillsborough verschmutzt“. Die gleiche Strafe steht auf den Konsum von alkoholischen Getränken auf offener Straße, wie ein zweites Schild verkündet.

Die Arbeitslosigkeit, die landesweit über 20 Prozent beträgt und in den katholischen Ghettos Belfasts zum Teil bei 80 Prozent liegt, ist in Hillsborough deutlich niedriger. „Ich arbeite in einer Bank in der Kreisstadt Lisburn“, sagt der 26jährige Mark. „Aber viele meiner Freunde haben in den letzten Monaten ihre Jobs verloren.“ Innerhalb nur einer Generation hat Nordirland fast seine gesamte, protestantisch dominierte Industriebasis eingebüßt. Zwar gibt es jetzt mehr Jobs im öffentlichen Sektor, doch aufgrund der Antidiskriminierungsgesetze, die als Bedingung für Investitionen aus den USA erlassen wurden, müssen inzwischen mehr Katholiken eingestellt werden. Die Arbeitslosigkeit ist freilich unter Katholiken noch immer weitaus höher, doch für die Protestanten ist das eine völlig neue Erfahrung. „Sie sind jetzt mit einem Ausmaß an Arbeitslosigkeit konfrontiert wie nie zuvor“, sagt der protestantische Pfarrer Hillsboroughs.

Mark glaubt, daß sich die britische Regierung am liebsten aus Nordirland zurückziehen würde. „Wir sind ihnen inzwischen wohl peinlich.“ Mark tritt – wie fast alle Einwohner Hillsboroughs – für die Union mit Großbritannien ein. „Die unionistischen Parteien behaupten, die IRA habe aufgegeben“, sagt er, „aber die IRA wird für die Aufgabe ihrer mörderischen Kampagne doch belohnt. Sie darf an Verhandlungen teilnehmen, wo sie versuchen wird, die irische Vereinigung mit anderen Mitteln durchzusetzen.“ Mark spricht leise, aber der nordirische Akzent ist deutlich hörbar. Viele Einheimische behaupten, am Akzent zwischen Katholiken und Protestanten unterscheiden zu können.

Paul, der sich zu Mark an den Ecktisch in der Hillside-Kneipe gesetzt hat, widerspricht ihm: „Seit dem IRA-Waffenstillstand haben die loyalistischen Organisationen einen Zulauf erhalten wie nie zuvor, weil viele den Verdacht hegten, daß die britische Regierung einen geheimen Deal mit der IRA gemacht habe.“ Ein britischer Regierungsbeamter hat in einer irischen Sonntagszeitung bestätigt, daß die Loyalisten in den letzten Wochen stark rekrutiert haben. „Der Waffenstillstand der Loyalisten ist deshalb ein Zeichen der Stärke“, glaubt Paul, „er bedeutet, daß es kein vereintes Irland geben wird – sonst hätten sie niemals die Waffen niedergelegt.“

Der Hillside-Pub an der Hauptstraße besteht aus einem kleinen Schankraum und einem großen Zimmer im hinteren Teil der Kneipe. Beide Räume sind gut gefüllt. Es sind fast alles junge Leute, die sich für den Kneipenbesuch erstaunlich fein gemacht haben. Sie verurteilen ausnahmslos Gewalt, doch viele schränken sogleich ein, daß es darauf ankomme, gegen wen sie sich richtet. „Ich kann nicht leugnen, daß es mich jedesmal gefreut hat, wenn ein IRA-Mann getötet wurde“, gibt Mark zu. „Aber seit dem Hillsborough-Abkommen hat die IRA die Oberhand gewonnen.“

1985 wurde im Schloß von Hillsborough das anglo-irische Abkommen unterzeichnet. Zwar hat es keine konkreten Veränderungen bewirkt, doch allein das theoretische Mitspracherecht Dublins in nordirischen Angelegenheiten war genug, um bei den Protestanten eine Radikalisierung auszulösen. Die Belagerungsmentalität stammt aus Zeiten, als die Protestanten eine Minderheit in einem feindlichen Land waren. Doch auch nachdem sie mit der Teilung Irlands zur Mehrheit wurden, hat sich daran nichts geändert. Als die künstliche Grenze 1921 gezogen wurde, umfaßte sie das größtmögliche Gebiet, in dem die Protestanten eine sicher scheinende 2:1-Mehrheit stellten. Die letzte Volkszählung vor zwei Jahren hat jedoch ergeben, daß der Anteil an Katholiken auf 42 oder 43 Prozent gestiegen ist. Im Westen der Provinz sind die Katholiken schon heute in der Mehrheit, die Hauptstadt Belfast wird Ende des Jahrhunderts katholisch dominiert sein. Grund dafür ist nicht nur der größere Kindersegen bei katholischen Familien, sondern auch die Auswanderung protestantischer Akademiker, die mit dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit in protestantischen Vierteln zugenommen hat.

Die Shankill Road im 16 Kilometer entfernten West-Belfast ist jedoch noch fest in protestantischer Hand. Auf einer Giebelwand steht in weißen Lettern der Spruch: „Boris ist ein Protestant.“ Gemeint ist der russische Präsident Jelzin, der vor gut zwei Wochen offenbar zuviel getrunken hatte und den irischen Premierminister Albert Reynolds versetzte. „In Wirklichkeit ging es Jelzin wie uns“, lacht Jean, die mit vier vollen Plastiktüten aus dem Supermarkt kommt, „er wollte nichts mit Reynolds zu tun haben.“ Dann fügt sie hinzu: „Ich bin so froh, daß die Kinder jetzt eine Zukunft ohne Gewalt haben und ein normales Leben führen können. Für uns Ältere ist es wohl zu spät, die Bitterkeit sitzt zu tief, als daß wir so tun könnten, als seien die letzten 25 Jahre nicht geschehen.“

Ihr Mann Frank, der schnell im Berlin Arms ein Bier getrunken hat, während seine Frau im Supermarkt war, stimmt ihr zu: „Früher, bevor der Konflikt losging, war ich oft im Pub auf der Falls Road“, sagt er und zeigt auf die „Friedenslinie“, einen Wellblechzaun, der die protestantische Shankill von der katholischen Falls Road trennt, „und die Frauen von der Falls kamen zum Einkaufen herüber. Es wird Jahre dauern, bis es wieder so sein wird. Vielleicht hilft es ja, wenn Gusty sich tatsächlich mit Adams an einen Tisch setzt.“

Gusty Spence, der 18 Jahre lang wegen Mord an einem Katholiken im Gefängnis gesessen und vergangene Woche die Waffenstillstandserklärung der Loyalisten verlesen hat, sagte danach über den Sinn- Féin-Präsidenten: „Ich glaube, wir können miteinander ins Geschäft kommen.“ Und Gary McMichael, dessen Vater John – ehemaliger Chef der loyalistischen Ulster Defence Association – 1987 von der IRA getötet worden war, sprach von der „Einheit der Arbeiterklasse“, die es jetzt zu schaffen gelte. „Während die unionistischen Politiker jeden Kontakt mit Sinn Féin und IRA ablehnen“, sagt Frank, „bietet ein ehemaliger UDA-Mann ein Gespräch mit Adams an. Möglicherweise geschehen noch Zeichen und Wunder. Mir soll es recht sein – solange Nordirland Teil des Vereinten Königreiches bleibt.“