Ein neuer großer Bruder wird nicht gesucht

■ Gipfeltreffen der Vertreter turksprachiger Staaten und der Türkei in Istanbul

Istanbul (taz) – Die türkischen Träume einer Wiederbelebung der antiken Seidenstraße, die einstmals die Turkvölker ganz Asiens – vom Bosporus bis zur Großen Chinesischen Mauer – verband, schwinden heute hinter der rauhen geopolitischen Wirklichkeit. Die Politiker in Istanbul fürchten russische Bestrebungen, die verlorengegangene regionale Hegemonie wiederherzustellen und hegen heute weniger romantische Visionen von einer ethnischen Einheit der Türken. Es geht um die Kontrolle der ungeheuren Energieressourcen in Zentralasien. Dies dürfte beim Istanbuler Treffen der Führer von fünf ehemaligen sowjet-türkischen Republiken – Aserbaidschan, Kirgisien, Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan – sowie der Türkei im Vordergrund stehen, das gestern begann und heute endet. – Seit dem ersten Gipfel vor zwei Jahren haben die Regierenden in der Türkei schmerzlich erkennen müssen, wie beschränkt ihre Einflußmöglichkeiten sind. Trotz ihrer sehr engen Beziehungen zu Aserbaidschan, das geographisch und sprachlich der Türkei am nächsten liegt, konnte Istanbul Präsident Albufaz Eltschibej, einen Verfechter der türkischen Einheit, nicht retten, als er im Juni 1993 von Gaidar Alijew, einem ehemaligen Mitglied des sowjetischen Politbüros, gestürzt wurde. Im Oktober mußte man in der Türkei mitansehen, wie Alijew durch einen Putschversuch fast aus dem Sattel gehoben wurde. Hinter diesem Versuch standen, so glauben viele Beobachter, russische Kräfte, die ein Ölgeschäft im Werte von über sieben Milliarden Dollar mit westlichen Partnern torpedieren wollten. Sie fürchteten, dieser Deal könnte den verbliebenen russischen Einfluß in Aserbaidschan untergraben.

Rußland leugnet die Vorwürfe, besteht aber darauf, es werde das aserbaidschanische Ölgeschäft nicht anerkennen, solange sich die Grenzstaaten des Kaspischen Meeres nicht auf eine Regelung der Grenzfragen geeinigt haben. Auf ähnliche Weise hat Rußland seine Kontrolle über die Ölpipelines auf seinem Gebiet genutzt, um sich in wichtige Ölgeschäfte in Kasachstan hineinzudrängen.

Rußlands Handschrift wird auch bei Unruhen in Tadschikistan und Georgien vermutet. Diese ehemaligen Sowjetrepubliken sind inzwischen auf Tausende russische Soldaten angewiesen, um ihren brüchigen Frieden zu erhalten.

Die Türkei hat erfolglos versucht, die russischen Streitkräfte durch eine internationale Friedenstruppe ersetzen zu lassen. Doch die Zeiten haben sich geändert: Die Abschlußerklärung des Istanbuler Gipfels wird wohl die Frage der Friedenstruppe nicht einmal erwähnen, um nicht russischen Zorn zu wecken. Und alle Beratungen, die sich um die bosnische Krise, den Frieden im Nahen Osten und die Unruhen im Kaukasus drehen werden, sind überschattet von der Unsicherheit über die russischen Bestrebungen in der Region. Nicht pantürkische Gefühle, sondern die alten Rivalitäten zwischen den ehemaligen Sowjetrepuliken prägen heute die Realität in Zentralasien und im Kaukasus.

Dabei kann die Türkei mit Stolz auf gute wirtschaftliche Zusammenarbeit und kulturelle Beziehungen zu den turksprachigen Republiken zurückblicken: Eine neue nicht-russische Elite wird herangebildet, heute studieren über 10.000 Studenten aus der ehemaligen Sowjetunion an türkischen Schulen und Universitäten. Telekommunikationsverbindungen wurden eingerichtet. In diesem Monat übernahm die Türkei die formale Kontrolle über den Satelliten „Turksat 1B“, der Fernsehen, Radio und Daten über ganz Zentralasien ausstrahlen kann. Türkische Baufirmen sind außerdem in allen Republiken tätig, sie bauen alles von Hotels bis zu Moscheen. Und dennoch, die Allgegenwart türkischer Geschäftsleute auf den düsteren Flughäfen Zentralasiens kann die mangelnde Begeisterung für engere Beziehungen zur Türkei kaum verhüllen. Ein höherer zentralasiatischer Beamter meinte: „Siebzig Jahre lang hatten wir einen großen Bruder. Wir suchen keinen Ersatz.“ Und ein westlicher Diplomat sagte: „Die Türken und ihre zentralasiatischen Brüder sind älter und klüger geworden.“ James M. Dorsey