Erststimmen von PDS und Grünen machen Kohl erneut zum Kanzler

■ Rot-grüne Erststimmenkampagne hätte das verhindert

Hamburg (taz) – Ganz früh am Morgen, die Tageszeitungen sind längst gedruckt und verkünden den knappen Kohl-Sieg, zündet der Bundeswahlleiter die Bombe: Mit nur 329 von 661 Mandaten haben Union (282 Sitze) und FDP (47) die Mehrheit knapp verpaßt. Die bisherige Opposition liegt mit 332 Mandaten (SPD 253, Grüne 49, PDS 30) hauchdünn vorn. Ein Witz?

Nein, eine durchaus realistische Möglichkeit, hätten doch bloß PDS-Wähler im Osten und grüne Wähler im Westen die Eigenheiten des deutschen Wahlrechts geschickt ausgenutzt. Dies hätte Überhangmandate für die CDU verhindert und im Gegenzug für die SPD gesichert. Denn, so das großparteienfreundliche deutsche Wahlrecht: Gewinnt eine Partei auf Landesebene mehr Direktmandate, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen, darf sie diese behalten.

Der Reihe nach: Nach dem Zweitstimmenergebnis vom 16. Oktober, Grundlage auch der TV- Hochrechnungen, hatte die Regierungskoalition lediglich 329 Mandate erreicht und lag damit um 2 Sitze vor den 327 Plätzen der Opposition. Die wundersame Wandlung des knappen Vorsprungs in eine solide Kanzlermehrheit gelang mit der Geheimwaffe „Überhangmandat“. Kohl konnte seine Bataillone durch zwölf Überhangmandate aufstocken: zehn aus dem Osten und zwei aus Baden-Württemberg.

Die SPD, bei der manche klammheimlich auf Überhangmandate aus NRW spekuliert hatten, mußte sich mit drei Extramandaten aus Brandenburg und einem aus Bremen zufrieden geben. Es hätte freilich auch ganz anders kommen können. Der überraschende Gewinn derart vieler Überhangmandate ist leicht erklärt: Im Osten schwächten PDS- Erststimmen die SPD, so daß vielerorts CDU-Bewerber mit kaum 40 Prozent ihre Wahlkreise gewinnen konnten. In Baden-Württemberg ist der schwarze Durchmarsch den Grünen geschuldet: Die CDU gewann bis auf einen alle Direktwahlkreise, obwohl in den Unistädten Freiburg, Tübingen und Heidelberg, aber auch in Stuttgart und Mannheim klar kontra Schwarz gestimmt wurde. Das Muster ist immer das gleiche: Der CDU-Kandidat gewinnt, obwohl Rot-Grün mit 55 zu 45 Prozent der Zweitstimmen vorn liegt. In den Ostländern gewannen CDU-Kandidaten überraschend zum Beispiel in Wismar, Güstrow, Dessau, Leipzig, Dresden und Chemnitz, weil die bis über 60 Prozent von SPD, PDS und Grünen sich bei den Erststimmen verzetteln. Kurz: Hätten die PDS-Wähler dort konsequent ihre Erststimme der SPD gegeben, die Grünen Studis in Freiburg und anderwso im Ländle ebenso – Kohl hätte kein einziges Überhangmandat gesehen. Hätte gleichzeitig die SPD ihre vier aus Brandenburg und Bremen behalten sowie ein weiteres in Hamburg hinzubekommen – der neue Bundestag hätte ein völlig anderes Gesicht.

Statt dessen konnte die CDU von ihrer relativen Stärke profitieren (schwache FDP), während die SPD-Direktkandidaten zwischen PDS und Grünen aufgerieben wurden. Ob eine gemeinsame Erststimmenkampagne von SPD, PDS und Grünen aber gegriffen hätte? Wohl kaum: Sie hätte das gemeinsame Bekenntnis zum Wechsel und WählerInnen gebraucht, die sich von Wahlstrategen fernsteuern lassen. Florian Marten