Freiheit der Emotionen

■ Achtungserfolg durch Provokation: „Munch und Deutschland“ – Ausstellung in München, Hamburg und Berlin

Die Vermutung liegt nahe, daß Munch – ähnlich wie Strindberg in der Literatur und Grieg in der Musik – das schwermütige Lebensgefühl seiner skandinavischen Heimat in der Malerei vermittelt. Wichtige Teile seines Lebenswerkes sind jedoch – auch sein berühmtes Gemälde „Der Schrei“ – zwischen 1892 und 1908 entstanden, als Munch sich vorwiegend in Deutschland aufhielt – vor allem in Berlin, später auch in Warnemünde und in Thüringen. Offensichtlich wirkte sich die Distanz in der Fremde inspirierend auf den künstlerischen Schaffensprozeß aus.

Fern von der nordischen Landschaft zitiert Munch die Stimmung einer Sommernacht am Meer, und in den Künstlerkreisen der Großstadt Berlin findet er Anregungen für Figurengruppen mit Menschen, die einander umklammern oder sich in der Sehnsucht der Einsamen verlieren. Eine Ausstellung, die derzeit in München zu sehen ist, untersucht nun erstmals das Thema „Munch und Deutschland“.

In Berlin begann Munchs künstlerischer Lebensweg mit einem Skandal: Der Maler eröffnete am 5. November 1892 im Verein Berliner Künstler seine erste Einzelausstellung, die am 12. November vorzeitig geschlossen wurde. Munch läßt sich jedoch nicht entmutigen, mietet Räume im Berliner Equitable-Palast und stellt die 55 Gemälde dort aus. Dem 29jährigen Künstler mangelt es offensichtlich nicht an Selbstbewußtsein.

Vom Lebensgefühl jener Jahre zeugen zwei großformatige Porträts: das nervöse, nachdenkliche Selbstbildnis mit Zigarette (1895) und das in verschwimmenden Blautönen gehaltene Porträt von Dagny Juel Przybyszewka (1893) – zugleich Vamp und Madonna. Die junge Norwegerin hatte wie Munch die Bohème von Kristiania mit dem Künstlerkreis um Strindberg im Berliner Lokal „Zum schwarzen Ferkel“ getauscht. Wichtigstes Stichwort jenes Zirkels, zu dem auch Munch gehörte, war die Freiheit, im politischen wie auch im persönlichen und sexuellen Sinn.

Wie sehr dieses Credo der künstlerischen Avantgarde vor hundert Jahren in Berlin eine Gratwanderung darstellte, zeigt vor allem der „Lebensfries“, der in den neunziger Jahren in Berlin entstand. Aus dem Zyklus mit ursprünglich 22 Gemälden sind in der gegenwärtigen Ausstellung wieder zwölf Bilder versammelt, die von Liebe und Begierde, von Trennung und Tod, von Erkenntnis und Einsamkeit erzählen – Themen, die Munch sein ganzes Leben hindurch bearbeitete. Hier wie auch in verwandten Arbeiten gelingt es ihm, Farben und Formen auf dreiste und moderne Art zu kombinieren – etwa in dem Bild „Eifersucht“ (1907), auf dem eine Frau mit leuchtend roter Haut zwei Männer mit grün-gelben Gesichtern zugleich trennt und zusammenbindet. Allein dieses Bild wäre eine Reise nach Oslo wert – Munch vermachte der Stadt seinen gesamten Nachlaß – und belegt deren Qualität.

Ergänzt werden Munchs Graphiken und Gemälde, darunter auch zahlreiche Porträtstudien in hellen, pastelligen Farbtönen, von Arbeiten deutscher KÜnstler, die der Norweger bewundert hat, wie Klinger und Böcklin, von denen sich Munch aber als radikaler Moderner abhebt. Der Vergleich zwischen Munchs Landschaftsbildern und denen seines Freundes Walter Leistikow zeigt, daß Munchs Thema stets die Emotionen der Menschen waren, die sich in dunklen, geheimnisvoll erhellten Nächten spiegeln.

Einfluß übte Edvard Munch, der erst 1944 im Alter von 81 Jahren bei Oslo starb, vor allem auf expressionistische Maler in Deutschland aus, wie etwa Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Emil Nolde. Die Bearbeitung dieses Themenbereichs – gerade auch anhand von Archivmaterial aus Oslo – gilt sozusagen als Rechtfertigung, wertvolle Gemälde auf Reisen nach München und später nach Hamburg und Berlin zu schicken und so bis April nächsten Jahres vor allem dem Munch-museet und der Nasjonalgalleriet in Oslo wichtige Leihgaben zu entführen. Denn anhand der 130 Exponate wird vor allem sichtbar, daß Munch in Deutschland äußerst umstritten war und sich schließlich als Wegbereiter der Moderne Achtung durch Provokation erkämpfte. Annette Krauß

Die Ausstellung „Munch und Deutschland“ ist in der Münchner Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung bis zum 27. November zu sehen, anschließend vom 9. Dezember bis zum 12. Februar 1995 in der Hamburger Kunsthalle und schließlich vom 24. Februar bis zum 23. April 1995 in der Berliner Nationalgalerie. Der Katalog kostet 42 DM.