Atomkraftwerke altern schneller

Zentimeterlange Risse im Nachkühlsystem des Reaktors von Brunsbüttel bringen austenitische Stähle erneut ins Gerede / Wird der Austausch der beschädigten Bauteile bald zu teuer?  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) – Seit August 1992 ist der Siedewasserreaktor von Brunsbüttel abgeschaltet. Auf absehbare Zeit wird er nicht wieder in Betrieb gehen. Bei Revisionsarbeiten an einem der Nachkühler fanden Techniker jetzt erneut zwei Risse von 17 beziehungsweise 20 Zentimeter Länge.

Seit Jahren leidet der Reaktor an Werkstoffproblemen. Wie schon bei den früher an anderen Bauteilen entdeckten Schäden befinden sich die neuen Risse in der Nähe von Schweißnähten eines „austenitischen“ Edelstahls. Betroffen ist nach Angaben der Reaktorsicherheitsabteilung des Kieler Energieministeriums ein „inneres Trennblech“ des Nachkühlers.

Atomkraftwerke müssen mit mehrfach ausgelegten Nachkühlsystemen ausgerüstet sein, weil die Brennelemente auch nach Unterbrechung der Kettenreaktion, also nach dem Abschalten des Kraftwerks, durch den sogenannten nuklearen Nachzerfall weiter Wärme produzieren. Ohne kontinuierliche Kühlung würde die Nachzerfallswärme ausreichen, den Reaktorkern zum Schmelzen zu bringen.

In Brunsbüttel liegen allerdings während der gegenwärtigen Stillstandsphase die meisten Brennelemente in einem gesonderten Lagerbecken, das über eigene Kühlaggregate verfügt. Zur Kühlung des Reaktorwassers reichen nach Angaben des Energieministeriums die drei noch intakten Nachkühler aus.

Einer der beiden Risse sei bereits „mit bloßem Auge“ erkennbar gewesen, sagt Ministeriumssprecher Klaus Kramer. Die Ursache der neuerlichen Schäden werde noch geprüft. „Im Beisein des TÜV“ sollen die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) als Betreiber des 770-Megawatt- Reaktors nun alle Nachkühlpumpen auf mögliche Risse hin untersuchen.

Risse in austenitischen Stählen entwickeln sich seit Beginn der 90er Jahre zum ständigen Begleiter der in Deutschland betriebenen Siedewasserreaktoren. In Brunsbüttel fanden die Revisoren vor den jetzt bekanntgewordenen Schäden bereits 33 Anrisse in unterschiedlichen, nachgeordneten Sicherheitssystemen. Auch in den Atomkraftwerken Krümmel (Schleswig-Holstein), Würgassen (Nordrhein-Westfalen), Philippsburg 1 (Baden-Württemberg) und Isar 1 (Bayern) traten ähnliche Schäden auf. Die Bauteile mußten ausgetauscht werden, die Reaktoren standen still. Die Hersteller mußten eingestehen, daß sich ausgerechnet die als besonders rißfest geltenden austenitischen Stähle zu einem latenten Sicherheitsrisiko entwickelt haben.

Die Risse entstehen jeweils in unmittelbarer Nähe von Schweißnähten. In diesen Zonen ist der Edelstahl offenbar anfällig gegen sogenannte Spannungsrißkorrosion. Darunter verstehen die Werkstofforscher einen Schadensmechanismus, der dann auftritt, wenn Hitze, hohe Spannungen und ein aggressives Umgebungsmedium (in diesem Fall heißes, verunreinigtes Wasser) auf das Material wirken. Unterschiede in der Kühlwasserqualität sind vermutlich auch dafür verantwortlich, daß bisher nur Siedewasserreaktoren (sieben sind hierzulande in Betrieb) betroffen sind, nicht aber Druckwasserreaktoren, in denen überschüssiger Sauerstoff im Kühlwasser mit geringen Zusätzen von Wasserstoff gebunden und unschädlich gemacht wird.

Bisher blieben die Schadensmeldungen für die Kraftwerksbetreiber nur ein ärgerliches, weil kostenträchtiges Problem. Der Betrieb der Anlagen war nach dem Austausch der betroffenen Bauteile nie gefährdet. Das könnte sich bald ändern: Im AKW Würgassen entdeckten Techniker vor einigen Wochen Risse im sogenannten Kernmantel. Wenn die Integrität dieser zentralen Komponente des Reaktorkerns nicht gewährleistet ist, wird keine Aufsichtsbehörde das Risiko des Weiterbetriebs tragen wollen. Fraglich ist, ob ein Austausch des gut sechs Meter hohen Zylinders mit einem Durchmesser von über vier Metern möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist.