Kaindl-Mord war nicht geplant

Mordanklage im Prozeß um den Tod des ehemaligen Mitglieds der „Deutschen Liga“, Gerhard Kaindl, wird vermutlich fallengelassen / Richterin sieht keinen dringenden Tatverdacht  ■ Aus Berlin Jeannette Goddar

„Bitte Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!“ Mit dieser Aufforderung konnte sich die Vorsitzende Richterin Gabriele Eschenhagen kaum durchsetzen, als die ZuschauerInnen im Berliner Kaindl-Prozeß vorgestern mit lautstarken Buhrufen die Ablehnung des Antrags auf Haftentlassung für Abidin E. kommentierten. Anders als Verteidiger Christoph Kliesing und etwa 60 UnterstützerInnen aus der „antifaschistischen Szene“ sieht die Richterin am Berliner Landgericht einen „dringenden Tatverdacht“ bei Abidin E. nach wie vor als gegeben. E. beteuert hingegen weiterhin, in der Nacht zum 4. April 1992 nicht am Tatort gewesen zu sein.

Was bei der Ablehnungsbegründung am Ende eines nervenaufreibenden Verhandlungstages im Prozeß um den Tod des rechtsradikalen Politikers Gerhard Kaindl in der allgemeinen Unruhe fast unterging, dürfte für den weiteren Prozeßverlauf hingegen entscheidender sein: „Für einen gemeinschaftlich begangenen Mord sehen wir keinen dringenden Tatverdacht mehr“, erklärte Eschenhagen. Damit dürfte der Mordvorwurf gegen die sieben Angeklagten bald zu den Akten gelegt werden. Wegen des Verdachts der gemeinschaftlichen Körperverletzung mit Todesfolge solle Abidin E. aber in Untersuchungshaft bleiben, so Eschenhagen, bis in der kommenden Woche die Beamten des Berliner Staatsschutzes gehört worden sind.

Laut Anklageschrift sollen die Angeklagten im April 1992 den damaligen Schriftführer der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ (DL), Kaindl, nach einem „gemeinsam verfaßten Plan“ ermordet haben. Daß die Gruppe, die sich in der Nacht zum 4. April auf den Weg in ein China-Restaurant im Berliner Bezirk Neukölln machte, um dort die „Nazis zu vertreiben“, jemanden töten wollte, wurde jedoch im Verlaufe der Vernehmungen der letzten Wochen immer unwahrscheinlicher. Lediglich der 19jährige Erkan S., der im vergangenen Jahr als erster dem Staatsschutz ein umfangreiches Geständnis abgelegt hatte, hatte von einem Tötungsvorsatz gesprochen. S.s Aussagen, die er zunächst ohne einen Anwalt gemacht hatte, wurden vorgestern jedoch per Gerichtsbeschluß als „unverwertbar“ erklärt. Das Gericht schloß sich damit dem Gutachten eines Neurologen an, der erklärt hatte, der psychisch kranke S. sei bei seinem Geständnis zu einer freien Willensentscheidung nicht in der Lage gewesen und hätte „zwanghaft“ gehandelt. Bereits zu Beginn des Prozesses war Erkan S. für schuldunfähig erklärt worden, nachdem ihm ein gerichtsmedizinisches Gutachten für die Tatzeit „paranoid-halluzinatorische Schizophrenie“ attestiert hatte. Als Hauptbelastungszeuge bleibt der 21jährige Bazdin Y., der mit seiner Aussage vor dem Berliner Staatsschutz weitgehend dem Geständnis seines Freundes Erkan S. gefolgt war. In der kommenden Woche werden die Staatsschutzbeamten, die S. und Y. vernommen hatten, gehört werden. Denn im bisherigen Prozeßverlauf waren an den Vernehmungsmethoden der Beamten des Staatsschutzes immer stärkere Zweifel aufgetaucht. So erklärte Bazdin Y., bevor seine Aussage aufgenommen worden sei, hätten ihm die Beamten den angeblichen Tathergang geschildert. Anschließend seien ihm Details aus dem Privatleben der vermeintlichen Täter, überwiegend Aktivisten der türkisch-kurdischen Gruppe „Antifasist Genclik“ (Antifaschistische Jugend), mitgeteilt worden. Erst nachdem man ihm das Geständnis seines Freundes Erkan S. vorgelesen habe, sei er vernommen worden. Auch sei ihm suggeriert worden, wenn er eine Aussage mache, könne er anschließend nach Hause. Bei den Vernehmungen vor Gericht will Bazdin Y. sich an einen Großteil seiner, oft widersprüchlichen, Aussagen nicht mehr erinnern können: Mit sterotypem „Kann sein“ oder „Das hat der Staatsschutz mir diktiert“ antwortete er bisher auf fast alle Vorhaltungen aus den Vernehmungsprotokollen. Kommenden Dienstag wird der Prozeß fortgesetzt.

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