Die kalten Westnudeln

■ Tankred Dorsts „Herr Paul“ als Besetzer: lustvoll, verfressen und nicht zu vertreiben

Was für eine Rolle! Wie die Made im Speck, hockt der fette Herr Paul auf seinem Sofa. Und frißt und frißt. Ursula Karusseit, Starschauspielerin und vor Jahren aus der DDR gekommen, stopft sich die kalten Westnudeln in den Mund.

Für den Autor Tankred Dorst ist Herr Paul seit Jahren ein Thema. Schon 1980 tauchte das Lustmonster Herr Paul zum ersten Mal in Tankred Dorsts Fernsehfilm „Mosch“ auf - eine schwergewichtige Randfigur, von der der Autor sagt: „Ich hatte jahrelang Schwierigkeiten sie in Bewegung zu bekommen“. Nun ist die Fressmaschine zum Protagonisten „Herr Paul“ geworden. Ein Dauerrenner auf den Theaterbühnen der Republik und von ,,Theater heute“ zum Stück des Jahres gekürt. Jetzt hat das Stück im Brauhauskeller seine Bremer Premiere.

Die Bühne ist grottig verschwiemelt, Eisengestänge rostet vor sich hin, im Hintergrund tropft Wasser wie in einem Film von Tarkowski. Wer hier sein rotes Riesensofa aufgestellt hat, der wohnt am Ende der Welt.

Das war auch die Absicht des Herrn Paul, der mittlerweile schwer ächzend auf der unfreudschen Megacouch Platz genommen hat. Seit Jahren haust der Kissenbeschwerer, der hier hinreißend mit Wanst und Glatze von Ursula Karusseit gespielt wird, in den weitläufigen Räumen einer aufgelassenen Fabrik. Eigentlich liegt er aber nur auf dem Sofa. An seiner Seite und etwas beweglicher, die Schwester (Hilde Darjes), die schon mal einen Topf auf die verklebten Kochplatte stellt. Kaum ist das alte Fräulein im Pelzcape dann zu ihrem Opernabend aufgebrochen, bricht die Störung herein.

Helm stört immer. Der Langzeitstudent, der schon mal fürchtete, aus ihm würde auch so ein Herr Paul, hat das Gebäude geerbt. Da heißt es, die weißen Tennissocken hochziehen. Die Chance muß genutzt werden. Hier wird investiert, erklärt er Herrn Paul, der vorgibt, seine Post nicht zu öffnen und sich begriffsstutzig stellt. „Das ist ja erstaunlich, daß sie so Großes mit uns vorhaben.“ Heim trägt zwar einen schlagkräftigen Namen, aber weit ist es damit nicht her – gegen Herrn Paul jedenfalls hat der Möchtegernyuppie keine Chance.

So braucht es denn auch die Unterstützung seiner oberspontanen Freundin Lilo und des entschieden durchgreifende Bauunternehmers Schwarzbeck, um gegen den Fleisch gewordenen Widerstand des Herrn Paul anzugehen. Aber auch ein Mordversuch scheitert. Der Mieter zeigt sich resistent. Nach fünf Minuten Totenstarre watschelt er auferstanden hinter seinem Sofa hervor. Das Prinzip Herr Paul ist unsterblich.

Diese Gewissheit ist ein Glücksfall. Schließlich gibt dem Taugenichts mit der Michelinmännchenfigur die halbe Weltliteratur Schützenhilfe.

Allen voran der russische Oblomov, der es schon vor 140 Jahren einfach zu mühselig fand, das Bett zuverlassen. Der Erfolg der Gestalt löste in Europa, die nicht ganz falsche Vorstellung aus, Lethargie sei ein grundlegender russischer Charakterzug. Jetzt erlauben sich doch nur noch modische Restaurants die Ehrentafel für die Helden der Behäbigkeit.

Das nächste Parteiabzeichen für Oblomoverie gebührt dem Bremer Ensemble. Die Regie von Markus Völlenklee ermuntert zum lustvollen Genuß der Trägheit. So wirkt der ganze Aufstand um den beharrlichen Dickwanst über die Maßen komisch. Das ist zu großen Teilen Ursula Karusseit zu verdanken, der es gelingt ihre Hosen- bzw. Bauchrolle stark und amüsant zu geben ohne die anderen Figuren an die Wand zu spielen. So bleibt die Situationskomik des Stücks erhalten und das Publikum darf sich amüsieren, ohne von den philosophischen Anklängen des Stücks in schwerer Symbolismus herabgerissen zu werden. Susanne Raubold

Nächste Vorstellungen: 21., 23., 29., und 30 Oktober