■ Hanne Sophia Greve ermittelte im Auftrag der UNO Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien: „Es geht um Völkermord“
Die norwegische Richterin Hanne Sophia Greve ist eines der fünf Mitglieder der UNO-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien. Die Kommission legte dem Jugoslawien-Tribunal im Juni ihren Abschlußbericht vor. Das Interview ist auch interessant im Kontext der ersten national geführten Anklage gegen einen Serben. Der Prozeß wurde gestern im österreichischen Salzburg eröffnet.
taz: Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg gegen die Nazis erhob Anklage gegen drei Arten von Verbrechen: Verbrechen gegen den Frieden wie die Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gegen welche Art von Verbrechen wird der Internationale Gerichtshof in Den Haag Anklage erheben?
Hanne Sophia Greve: Es sind drei Arten von Verbrechen: schwere Verletzungen der Genfer Konventionen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
Welches sind die Hauptergebnisse der UNO-Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien?
Erstens gab es massive Verletzungen der Regeln des humanitären Völkerrechts. Zweitens gelangten wir zu der Erkenntnis, daß es nicht korrekt ist zu sagen, alle Konfliktparteien hätten Verbrechen auf derselben Ebene begangen. Bei weitem übertrifft die Zahl der Verbrechen, die von den Serben begangen wurden, jene der anderen Gruppen.
Ist dies nur eine Frage der Anzahl der Verbrechen oder auch eine der Schwere der Verbrechen?
Es ist beides. Und wir haben bedauerlicherweise erkennen müssen, daß die Verbrechen unter alle Kategorien fallen. Das bedeutet, daß sogar Völkermord eine der Schlußfolgerungen sein wird, von denen wir glauben, daß der Gerichtshof sie ziehen wird, wenn er die vorgelegten Beweise begutachtet. Und schließlich: daß die Systematik, mit der die Verbrechen begangen wurden, weitaus größer ist, als man anfangs vielleicht als Außenseiter gedacht hatte. Häufig wurde uns der Krieg präsentiert, so als ob dies ein Krieg von Menschen wäre, die außer Kontrolle geraten sind. Wir fanden jedoch ein hochstrukturiertes System, an dem viele Ebenen partizipiert haben: reguläre Armee-Einheiten, paramilitärische Einheiten, Spezialtruppen, die für diese Situation geschaffen wurden, und auch Ortsbewohner.
Aber es wäre ein Fehler, dies wesentlich als einen Krieg von Nachbarn gegen Nachbarn zu charakterisieren. Er wurde vielmehr wohl geplant, geplant von oben und ausgeführt von Gruppen, die von außen in die entsprechenden Gebiete gebracht wurden. Dies ist viel mehr ein Machtkampf als ein Kampf zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen. Es ist wesentlich die frühere kommunistische Nomenklatura, die sich an ihre Macht klammert.
Sie haben die Situation von Prijedor untersucht, wo die sogenannten „ethnischen Säuberungen“ im April 1992 begannen. Wie wurden diese dort geplant, was war ihre Absicht?
Die eigentliche Absicht scheint gewesen zu sein, es für jeden Nichtserben buchstäblich unmöglich zu machen, in diesem Gebiet zu bleiben. 1991 gab es eine Volkszählung, die mehr als 112.000 Menschen im Distrikt von Prijedor registrierte. In diesem Gebiet gab es 44 Prozent Moslems, 42,5 Prozent Serben, 5,6 Prozent Kroaten, 5,7 Prozent Jugoslawen, die sich zu keiner ethnischen Gruppe bekannten, und 2,2 Prozent Ausländer wie Russen, Ukrainer und Italiener. Nach lokalen serbischen Quellen wuchs diese Zahl von Ende 1991 bis April 1992 auf etwa 120.000, als die Serben die Macht in Prijedor ergriffen. In der Zeit hatten sie eine unabhängige Machtstruktur aufgebaut. Der selbsternannte serbische Chef der neuen Polizei, Zimo Drljaca, der später Vize-Innenminister in der Regierung von Radovan Karadžić wurde, erklärte in einem Interview in einer lokalen Zeitung, daß die serbische Polizei schon ein halbes Jahr vor der Machtübernahme „illegal“ unabhängige serbische Polizeikräfte aufbaute. Er eröffnete, daß er Hand in Hand mit der Geheimpolizei und ihrem Zentrum in Banja Luka handelte und daß er Anweisungen vom Innenministerium bekam.
Die Region von Prijedor wurde buchstäblich isoliert. Kommunikationsverbindungen, Züge, Busse wurden gestoppt, viele Truppen der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee Ijnaj und Spezialeinheiten wurden in die Gegend verlegt. Im April 1992 erklärten die Serben über Radio, die Macht ergriffen zu haben, was bedeutete, daß am Morgen die Menschen überall Checkpoints, Scharfschützen auf den Dächern und serbische Flaggen sahen. Dies geschah nach Aussage von Zimo Drljaca ohne das Abfeuern eines einzigen Schusses. Dann wurde ein Krisenkomitee gebildet, das zum Schlüsselinstrument für die serbische Machtergreifung wurde. Das Krisenkomitee ist eine kombinierte Einheit aus Militär, Polizei, politischen Führern, Geschäftsleuten und prominenten Personen. In Prijedor waren es etwa zwölf bis vierzehn Leute.
Wie gingen die „Säuberungen“ konkret vor sich?
Die Serben entließen die Nichtserben aus ihren Stellungen. Bald darauf begannen sie, die Moslems, Kroaten und die nichtserbische Einwohnerschaft anzugreifen. Sie nahmen das Gebiet um Kozarać, das linke Ufer des Flusses Sana und die Stadt Prijedor ein. Wenn ein Gebiet „gesäubert“ wurde, hieß dies häufig, daß es mit schwerer Artillerie bombardiert wurde. Wenn ein Gebiet mehr als zwölf Stunden angegriffen worden war, suchten natürlich die meisten Menschen Schutz in ihren Kellern. Dann kamen Infanterie und Spezialtruppen, gingen von Haus zu Haus und zwangen die Menschen, ihre Häuser zu verlassen, häufig in einer extrem brutalen Weise. „Brennt nieder! Tötet!“: das waren die Art Kommandoworte, die aus diesen Gebieten berichtet wurden. Wir wissen nicht die genaue Zahl der Toten, aber serbische Behörden haben später gesagt, es seien Tausende dort getötet worden.
Kinder unter 16 Jahren, Frauen und alte Männer wurden in einer Gruppe konzentriert, Männer zwischen 16 und 60 in einer anderen. Die meisten Frauen wurden direkt in das Konzentrationslager Trnopolje zur Deportation gebracht. Sie begannen, die Menschen sofort per Zug und Bus in das Gebiet von Zenica und Travnik zu deportieren. Die Männer wurden in die Konzentrationslager Omarska und Keratern gebracht.
Es gab zu Beginn dieses Jahres Mediendebatten über die Art dieser Lager – Zweifel daran, ob Menschen in den Lagern getötet wurden. In welchen Lagern wurden Menschen getötet und wie viele?
Omarska und Keratern haben wir als Todeslager identifiziert – mit der Absicht, die Männer nicht mehr herauszulassen. In Trnopolje gab es auch Tote, aber es war nicht ein Todeslager im selben Sinne des Wortes.
Was meinen Sie exakt mit Todeslager?
Ich meine damit ein Lager, in das sie die Männer brachten mit der Absicht, sie nicht als Gruppe überleben zu lassen. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß es gerechtfertigt ist, sie Todeslager zu nennen.
Der Presse ist für ihre Wachsamkeit gegenüber dem Leiden dieser Menschen zu gratulieren, denn der Grund, warum Keratern und Omarska nicht weiter als Todeslager geführt wurden, war einfach, daß die Informationen um die ganze Welt gingen und Journalisten die Lager besuchen wollten.
Haben die Serben unter Karadžić die Methoden der ethnischen Säuberungen nach diesen Berichten über die Lager im Sommer 1992 geändert?
Ich fürchte, das Gesamtmuster nicht. Es gibt weiterhin Berichte darüber, daß sie Gemeinden zerbrechen, sie umzingeln, sie gehen mit Infanterie hinein, sie deportieren die alten Männer, Frauen und Kinder und die Männer in Lager. Seitdem haben wir diese Lager nicht mehr überprüfen können, aber wir wissen, daß sie existieren, noch heute. Und all dies hat eben System. Verschiedene Leute, die Lager geführt, Deportationen oder militärische Attacken durchgeführt oder Individuen verfolgt haben, haben wohlkoordiniert gehandelt. Die Gesamtverantwortung liegt bei Politik, Militär und Geheimdienst.
Was glaubt man, mit diesen „ethnischen Säuberungen“ jetzt zu erreichen?
Ich fürchte, der Grund ist, daß die Serben glauben, unter den Friedensverhandlungen würden sie imstande sein, von den Friedensvermittlern das Recht über jene Regionen zu erlangen, die sie „gesäubert“ haben. Die Kommission ist tief besorgt, daß die sogenannten „ethnischen Säuberungen“ weitergehen. Wir haben die starke Hoffnung, daß die Ergebnisse der Kommission es der Welt ermöglichen zu sagen: Unter keinen Umständen wird es irgendeine Belohnung für jene geben, die solche Verbrechen begingen. Selbst wenn sie nicht bestraft werden: sie sollten nie belohnt werden. Interview: Johannes Vollmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen