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"Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit"

■ In Haiti sind die Führer der Terrorgruppen noch stark - für den Aufbau einer erneuerten Polizei und Justiz fehlt das Geld

Port-au-Prince (taz) – Zumindest auf der Mülldeponie in Port- au-Prince ist das Angebot besser geworden. Mit ein paar Dutzend anderen Jugendlichen wartet Rigot hier jeden Abend auf den großen Laster. Seine rechte Hand steckt in einem schwarzen Handschuh, in der linken hält er einen alten Gemüsesack. Seit die Amerikaner hier sind, sagt er, „gibt es gute Essensreste“. Die Reste der Soldatenrationen, meals ready to eat, werden heute wieder zusammen mit verfaultem Gemüse vom Markt und dem Hausmüll der „Bourgeoisie“ abgekippt. Rigot sucht nach Verwertbarem: Gürtelschnallen, Plastikkanistern, alten Schuhen. Alles eben, was sich bei ihm zuhause, in der Cité Soleil, wieder verkaufen läßt. Damit versucht er, 25 haitianische Dollar zusammenzusparen. Soviel kosten die Gebühren für ein Schuljahr. Fällt der Name „Aristide“, dann wird sein Gesicht etwas fröhlicher. „Der liebe Gott“, sagt er, „ist zurückgekommen.“ Dieser liebe Gott, so hofft er, wird dafür sorgen, daß er sein Schuljahr finanzieren kann, ohne jeden Abend zwischen stinkenden Müllhügeln, unzähligen kleinen Bränden und wühlenden Schweinen nach „Wertvollem“ suchen zu müssen.

In den Armenvierteln der Cité Soleil, in La Saline oder in Solino, warten sie immer noch auf einen Besuch ihres „Titid“. Doch seit seiner Rückkehr aus dem Exil am letzten Samstag hat Jean-Bertrand Aristide den Präsidentenpalast nur einmal verlassen: Anläßlich des Todestages des Unabhängigkeitskämpfers Jean-Jacques Dessalines wagte er, abgeschirmt von US- Truppen und Sicherheitsbeamten, die kurze Fahrt vom Palast ins benachbarte Mauseoleum des Nationalhelden. Weitere Ausflüge, so ein Sprecher Aristides, sind vorerst nicht vorgesehen, da man Angst vor Attentaten durch „Attachés“ oder Mitglieder der Terrororganisation FRAPH hat.

Der Palast, den einst François „Papa Doc“ Duvalier und später sein Sohn Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier zu ihrer Festung machten, ist nun für Aristide zu einem schützenden Gefängnis geworden. Die Attachés verfügen nach wie vor über einen Großteil ihrer Waffen, die sie mittlerweile in kleineren dezentralen Verstecken deponiert haben. Das Hauptquartier der rechtsradikalen FRAPH, die für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, wurde zwar vor wenigen Wochen von US-Truppen gestürmt und ein paar Mitglieder fanden sich gefesselt und mit verbundenen Augen auf US-Lastwagen wieder. Doch der Führer der Organisation, Emmanuel „Toto“ Constant, sitzt weiterhin unbehelligt in seinem Haus in Port-au- Prince. FRAPH-Leibwächter wimmeln Journalisten ab und schützen ihn vor Racheaktionen aus der Bevölkerung.

Grund zur Angst hat Constant allemal. Wiederholt kommt es zu Verfolgungsjagden von Aristide- Anhängern, die tatsächliche oder vermeintliche Attachés stellen wollen. In den meisten Fällen werden die Betroffenen durch die Straßen gejagt und verprügelt. Erst dann folgt man dem Appell Aristides und übergibt sie den US- Truppen. Vor wenigen Tagen allerdings endete eine Konfrontation in der Cité Soleil tödlich: Ein FRAPH-Mitglied ermordete nach Auseinandersetzungen mit Aristide-Anhängern einen unbeteiligten Straßenhändler mit einer Machete. Die Menschenmenge tötete den Mann – ebenfalls mit Messern und Macheten.

Unter anderem, um solchen Aktionen von Selbstjustiz zuvorzukommen, fordern Berater des haitianischen Präsidenten ein härteres Vorgehen der US-Armee, die als De-facto-Polizei agiert, gegen die Führungen der FRAPH und ähnlicher Organisationen. Eben dies legte Ira Kurzban, Anwalt aus Miami und derzeit Berater Aristides in Port-au- Prince, den Kommandanten von „Operation Uphold Democracy“ nahe. „Die meisten dieser Leute kämen wegen terroristischer Aktivitäten vor Gericht.“ Doch die Gerichte sind selbst Teil des Problems.

Ein Großteil der Richter ist korrupt, einen funktionierenden rechtsstaatlichen Strafverfolgungsapparat gibt es nicht. Aristide und seine Regierung messen der Reformierung des Justizwesens höchste Priorität bei, um das zu garantieren, was die Bewohner in der Cité Soleil in den letzten Tagen immer häufiger an Hauswände malen: „Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit“. Eine Reform allerdings kostet Geld. Die haitianische Regierung aber hat derzeit nicht einmal Geld, um dem Justizministerium Schreibstifte und Büroklammern zu besorgen.

15 Millionen Dollar will die „U.S. Agency for International Development“ (USAID), zuständig für die Verteilung der US-Auslandshilfe, in den nächsten Tagen überweisen. Dies ist die erste Rate eines Hilfspakets von 200 Millionen Dollar. Damit will die haitianische Regierung Öl importieren, das sie dann auf dem privaten Markt gegen lokale Währung weiterverkauft. Mit diesen Einnahmen sollen die dringendsten Verwaltungsarbeiten und öffentlichen Dienstleistungen finanziert werden – unter anderem der Aufbau eines Steuersystems.

Obwohl das UN-Embargo offiziell seit der Rückkehr Aristides am letzten Samstag aufgehoben ist, sitzen an den Tankstellen weiterhin nur Brot- und Zigarettenverkäufer. Aufgebrachte Bürger in Port-au-Prince machen die Schwarzmarkthändler dafür verantwortlich, daß bislang kein Öltanker im Hafen von Port-au- Prince seine Ware gelöscht hat. Auf dem Schwarzmarkt wurde der Benzinnachschub verknappt. Der Preis für eine Gallone war Mitte der Woche auf über 20 US-Dollar angestiegen.

Glaubt man den Prognosen der US-Botschaft, soll ab heute oder morgen das Benzin wieder aus den Zapfsäulen fließen. Damit würde in Port-au-Prince ein „Stadtteil“ geschlossen, der während des Embargos eine zentrale Rolle gespielt hatte: „Kuweit City“, eine Straße in Hafennähe, auf der das geschmuggelte Benzin aus der Dominikanischen Republik an die Kleinhändler umgeschlagen wurde. Andrea Böhm

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