Metrische Präzision

■ Die Kunstinsel von Oswald Mathias Ungers hatte gestern Richtfest

Ein steinernes Monument für Kreis und Quadrat und die Zahlen Drei und Vier hatte gestern feierliches Richtfest. Die Kunstinsel von Oswald Mathias Ungers, die pünktlich zu Ungers' 70. Geburtstag Mitte 1996 schlüsselfertig sein soll, dekliniert diese vier Bestandteile im strikten Meterraster durch bis ins letzte Detail.

Das beginnt beim Grundriß (36x36 Meter), der für den Bau und die Freifläche daneben identisch ist, geht über die Firsthöhe (24 Meter) bis zum Fassadenstein und den Fensterflächen, welche die Außenhaut konsequent in Quadratmeter unterteilen, und endet bei quadratischen Beleuchtungskörpern. Der über die vier Stockwerke reichende quadratische Lichthof (12 mal 12 Meter) ergibt mit dem Faktor 8 multipliziert die Restfläche, deren kreisförmig zu begehender Ausstellungsteil durch ein Viermeterraster unterteilt ist. Dieses Raster strukturiert scharf (wenn auch natürlich nicht zentimetergenau) das gesamte Gebäude längs aller x-, y- und z-Achsen.

Nur eine einzige Abweichung vom starren Schema gönnt sich der Kölner Stararchitekt: Als Referenz an das Konstrukt der Kunstmeile, die einmal von der Kunstinsel zu den Deichtorhallen reichen wird, wurde die pyramidale Lichtkuppel über dem Innenhof, die ursprünglich mit dem schrägen Sockel korrespondierte, durch eine Sattelform ersetzt, welche die neue Axialität betont.

Diese strenge Konsequenz, durch die Ungers 1986 den Ideenwettbewerb zur Neugestaltung der Museumsinsel gewann, ist formal sicherlich beeindruckend und auch der Raumeindruck, soweit ihn der jetzt fertiggestellte Rohbau zuläßt, ist nicht so beklemmend wie einmal befürchtet.

Doch die Argumente gegen Ungers' Architektur speisen sich auch aus anderen Quellen. Und kaum ein Bau aus seinem reichhaltigen, vierzigjährigen ×uvre ist derartig gut geeignet, seine konservativ-ideologische Architektur zu illustrieren, wie diese Kunstinsel. Denn hier hat Ungers, der Ziehvater der Architektur der „Neuen Einfachheit“, seine idealisierte Abstraktion geometrischer Grundformen in einer Symbolhaftigkeit verwirklicht, die sich nur noch durch einen fensterlosen Würfel überbieten ließe.

Ungers' Leitbild ist der in Quadrat und Kreis gefangene Mensch Leonardos. Oder weniger polemisch ausgedrückt: die makellose, reine Form, durch die er sich mit der Antike, der Renaissance und dem Klassizismus verbunden fühlt. Seine Architektur orientiert sich an der geometrischen Sauberkeit von Mengenlehre-Symbolen und ignoriert die Störung, den Prozeß, die Vitalität und die Natur. Im weiteren Gegensatz zu seinen Vorbildern erstickt er auch noch den Atem einer Fassade, die Rhythmik von Räumen und enttäuscht die Sehnsucht nach Schmuck mit den einfachsten numerischen Prinzipien.

Für Ungers zählt das Metrum, die Präzision, die Pünktlichkeit. So entsteht statt idealen Proportionen seelenlose Exaktheit, die gerade in Deutschland eher an Eichmann und die Rasterfahndung erinnert, als an Archimedes oder einen Raum für die Kunst. Doch auch ohne dem Demokraten Oswald Mathias Ungers faschistischen Beherrschungs- und Bändigungswahn vorzuwerfen, ist zu konstatieren, daß die Materialisierung von abstrakten Idealtypen in der Architektur ein Hilfsmittel fahrlässig zu einem Wert erhebt. Mathematik kann für die Architektur das sein, was das Gesetz für die Gesellschaft ist: ein Werkzeug unter vielen. Doch je mächtiger die abstrakte Regel über den Prozeß wird, um so mehr erstirbt etwas wesentlich Menschliches: Kommunikation.

Doch auch innerhalb seiner mathematischen Prinzipien verweigert sich Ungers' Architektur jeder Kritik durch neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Denn während andere Architekten, die sich mit dem Zusammenhang von Architektur und Denkmodellen in Physik und Mathematik beschäftigen, wie etwa Peter Eisenman oder Toyo Ito, längst mit Katastrophen- und Chaostheoretikern im Dialog stehen, weil diese den Zustand der Welt weit „menschlicher“ erfassen können, verweilt Ungers stur bei einem hermetischen Begriff der Schulmathematik. Und dadurch werden seine Entwürfe zu reinen Symbolbauten, deren Tenor nicht „Veränderung“ sondern „Herrschaft“ lautet.

Egal, ob es sich um die Deutsche Botschaft in Washington oder die Kunstinsel in Hamburg handelt: Ungers' Architektur antwortet dem kommunikativen Zerfließen herkömmlicher Werte (sei es in der Kunst, der Politik, den Naturwissenschaften oder dem Alltag) mit der Gewalt einer störrischen Basti-on. Und das verweist im vorliegenden Fall ironisch auf ein anderes Bauwerk, das hier stand: die Basti-on Vincent, welche die Wallanlagen einst wehrhaft überkrönte.

Till Briegleb