: Die Feindbilder sind mächtiger als Arafat
In der Gewaltspirale zwischen Israel und der palästinensischen Hamas-Bewegung scheint das Autonomiegebiet von Gaza wieder in alte Zeiten zurückzukehren / PLO-Polizei zwischen den Stühlen ■ Aus Gaza Kirsten Maas
Gaza hat sein Äußeres verändert. Die Häuserwände und Mauern entlang den Straßen, die zu Intifada-Zeiten übersät waren mit Graffiti, strahlen in neuem Weiß. 1.400 von der palästinensischen Autonomieregierung angestellte städtische Arbeiter, deren Löhne momentan von der japanischen Regierung finanziert werden, haben diese sichtbarsten Zeichen des Aufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzung übertüncht. Das Weiß der Wände soll Friedenszeiten symbolisieren.
In Scheikh Radwan, einem ärmeren Stadtteil von Gaza, sind die Aufschriften in diesen Tagen wiederaufgetaucht. Parolen und Embleme der islamistischen Hamas- Bewegung prangen an den Wänden. Überall ist ein Name zu lesen: Salah Jadallah, einer der Kidnapper des israelischen Soldaten Wachsman, der am Freitag letzter Woche beim Versuch der Israelis, den Soldaten zu befreien, getötet wurde. Für die Menschen in Scheikh Radwan ist Jadallah nun ein schahid, ein Märtyrer.
Aber was bringt einen jungen Mann dazu, dem militärischen Flügel der Hamas, der „Kassem-Brigade“ beizutreten und eine, wie sie es nennen, militärische Operation durchzuführen? Salah Jadallahs älterer Bruder Ahmad, der sich auf der Trauerfeier bei den versammelten Männern in einem Zelt vor dem Haus der Familie aufhält, beschreibt die Jugend seines Bruders so: „Als Salah 18 Jahre alt war, wurde unser kleiner Bruder Khalid vor seinen Augen von den israelischen Besatzern erschossen, nur weil die beiden Steine auf sie geworfen hatten. Salah, der noch versuchte, den toten Körper des Bruders davonzutragen, wurde verletzt und von den Soldaten verhaftet. In seiner Zelle haben sie immer wieder mit dem Gewehr in seine offene Schußwunde gestoßen, und dann ließen sie ihn allein zurück, so daß er fast verblutete.“ Ahmad trauert um seinen Bruder, dessen Tod ihm sinnlos erscheint.
Ahmad arbeitet als Fotograf für die Nachrichtenagentur Reuter. Dort war vor seinem Tode auch der Bruder Salah beschäftigt. Kurz nach der Entführung Wachsmans wurde Ahmad für vier Tage von den palästinensischen Sicherheitskräften in Haft genommen – einer der offiziell 230 Hamas-Mitglieder, die damals in Gefangenschaft gerieten, nach vorbereiteten Listen und ohne Angabe von konkreten Beschuldigungen. Ahmad selbst bezeichnet sich gar nicht als Hamas-Mitglied, aber er denkt wie eines: „Das Spiel hat sich geändert“, erklärt er. „Arafat denkt immer noch, er könnte den Einfluß von Hamas brechen, aber das ist unmöglich. Die Art und Weise, wie er mit den Leuten hier umspringt, zeigt nur, daß er sich gegenüber Rabin als ein guter Junge aufführen will.“
Die Massenverhaftung sorgte im Gaza-Streifen für Aufruhr. Nach einer kleineren Demonstration, die am Samstag vor einer Woche von den Studenten der Islamischen Universität ausging, demonstrierten am nächsten Tag 10.000 Hamas-Sympathisanten vor dem Zentralgefängnis in Gaza. Während die Gefangenen drinnen gemeinsam Allahu akbar!, „Gott ist groß“, durch ihre Zellenfenster nach draußen riefen, sammelte sich eine vom Haus des toten Entführers kommende Menge vor den Toren des Gefängnisses und forderte in Sprechchören die Absetzung von Nasser Yusef, Chef der palästinensischen Sicherheitskräfte. Die standen tatenlos daneben. Die geringste unüberlegte Reaktion hätte zu einem Blutbad führen können. Doch beide Seiten üben vorsichtigen Umgang miteinander. Die Polizei ist zur Zurückhaltung aufgefordert, und Hamas hat ihren Demonstranten jegliche Ausschreitungen untersagt.
Drei Tage später, am Mittwoch, ist alles wieder ruhig. Auf der Straßenkreuzung regelt ein palästinensischer Polizist den Verkehr – ein Unterfangen, das nach jahrzehntelangem funktionierendem Chaos auf den Straßen immer wieder heftige Diskussionen hervorruft. Der Polizist übt heftige Wortwechsel mit Fahrer und Passanten, auf die sich kein deutscher Ordnungshüter so schnell einlassen würde. Undurchsichtiger wirken da schon die jungen Männer, die vor dem Gefängnis, teils in Uniform, teils in Zivil, ihre Waffen zur Schau stellen.
Im Café am Straßenrand beäugt man die Uniformierten wohlwollend. Während externe Beobachter öfter von der Gefahr eines Bürgerkriegs sprachen, kann sich in Gaza selbst keiner vorstellen, daß palästinensische Polizisten bei einer Demonstration wie der vom Sonntag auf das eigene Volk schießen würden. Dies seien doch die schaba, die Märtyrer, die schon als Fatah-Kräfte in der Intifada für „Ordnung“ und „Widerstandsdisziplin“ gesorgt hätten, heißt es. Unterschiedliche Fraktionierungen gebe es überall, sogar unter den Geschwistern einer Familie, aber die Einheit des Volkes bleibe letztlich doch gewahrt.
Polizisten hat die palästinensische Autonomieregierung jedenfalls genug. Neben der Polizei unter Razi Jabali gibt es fünf verschiedene Gruppen von Sicherheitskräften: die sogenannte „Präventive Sicherheit“ unter Muhammad Dahalan, den von Amin al- Hindi geführten Geheimdienst, die Präsidentengarde „Gruppe 17“ unter Faisal Abu Scharah, die Grenzsicherheit unter Ziad al- Atrasch und die sogenannte „Zivile Sicherheit“, die von Mahmud Abu Marzuq geleitet wird. Zusammen sind das 10.500 Polizisten und Sicherheitskräfte, für deren Löhne und Versorgung monatlich etwa 7 Millionen Dollar aufgebracht werden müssen. Ein Haufen Geld, der in nicht allzuferner Zukunft von den Steuergeldern der palästinensischen Bevölkerung kommen muß.
Alte Freundschaften weichen nur langsam – und führen gleichzeitig zu Problemen. Derselbe Muhammad Dahalan beispielsweise, der heute als Chef der „Präventiven Sicherheit“ Hamas-Leute verhaften und verhören lassen soll, saß vor noch nicht allzu langer Zeit zusammen mit Hamas-Mitgliedern im Gefängnis. Dieselben Polizisten und Sicherheitsleute, die beispielsweise den Bruder Ahmad des Entführers Salah Jadallah im Gaza-Gefängnis festhielten, tauchten wenige Tage später auf der Trauerfeier für den ermordeten „Märtyrer“ auf. Und wenn sie bei dieser Gelegenheit das Feuer eröffneten, dann nur zu Salutschüssen in die Luft. Manch einen erinnern die Maßnahmen der palästinensischen Uniformierten trotzdem allzusehr an das Vorgehen der israelischen Besatzungskräfte. Dazu kommen die Gerüchte vom Zusammenspiel der israelischen und palästinensischen beiden Geheimdienste bei der Wachsman- Entführung. In einem Flugblatt vom letzten Sonntag beschuldigt Hamas die palästinensische Autonomieregierung, vor allem aber ihren Geheimdienst, dem israelischen Schin Bet den Aufenthaltsort der Entführer mitgeteilt zu haben.
Raji Sourani, Rechtsanwalt und Leiter des „Zentrums für Recht und Gesetz“ in Gaza, glaubt, daß die Wachsman-Entführung bei vielen Bewohnern Gazas auf Sympathie stieß – gerade weil sie mit der Forderung nach der Freilassung mehrerer hundert Gefangener verbunden war. „Hinter den noch zu Tausenden in israelischen Gefängnissen Einsitzenden stehen Familien, Freunde und Bekannte, die darauf warten, daß endlich etwas passiert“, beschreibt er die Gefühlslage im Autonomiegebiet. „Es kann keinen politischen Kompromiß in der Frage der politischen Gefangenen geben. Hamas hat mit der Aktion das Problem wieder ins Augenmerk gerückt. Die Enttäuschung der Menschen hier über die nicht erreichten Fortschritte in den Verhandlungen und die miserable ökonomische Situation im Gaza-Streifen sind Wasser auf die Mühlen der Hamas.“
Und daran wird sich so schnell nichts ändern. Von den 130.000 Arbeitskräften im Gaza-Streifen sind 60 Prozent arbeitslos. Nur 28.000 BewohnerInnen war es zuletzt erlaubt, zwecks Arbeit in Israel die Grenze zu überqueren – vor drei Jahren waren es noch doppelt so viele –, und jetzt, nach dem Anschlag in Tel Aviv, ist auch das wieder verboten. Die Auslandshilfe bleibt bisher aus, und vom dafür verantwortlichen Streit zwischen PLO-Behörden und Geldgebern weiß man hier nichts.
Laut einer von palästinensischen Akademikern durchgeführten Studie würde Hamas bei Wahlen augenblicklich 25 bis 30 Prozent der palästinensischen Stimmen für sich gewinnen können; 40 bis 45 Prozent gingen an Arafats Fatah und etwa 10 Prozent an die linke Opposition. Aber die Wahlen zur palästinensischen Autonomieregierung sind durch die israelischen Bedingungen in weite Ferne gerückt. Zudem ist fraglich, ob und in welcher Form sich die Opposition an den Wahlen beteiligen kann – und will.
Die jüngsten Spannungen haben den Menschen in Gaza deutlich gemacht, daß sich ihre Zukunft ganz woanders entscheidet. Als am Mittwoch vormittag die schrecklichen Nachrichten aus Tel Aviv eintreffen – 22 Tote und 42 Verletzte beim Kamikaze-Attentat in einem Bus in der Innenstadt –, rührt sich auch auf der Hauptstraße in Gaza kaum noch jemand. Ob in den Läden oder in parkenden Autos: alle hängen an den Radios. Die meisten haben ein Attentat wohl vorausgesehen, und die Kassem-Brigade hatte auf Flugblättern neue „militärische Operationen“ angekündigt. Während des Mittagsgebets tönt aus dem Lautsprecher der Filastin-Moschee das „Bekenntnis“: „Wir, die Izz ad-Din al Qassam, Gruppe Majd az-Zuhur, übernehmen die Verantwortung für den Anschlag in Tel Aviv.“ Majd az-Zuhur heißt der Ort im Südlibanon, an den über 400 Hamas- und Jihad-al-Islami-Anhänger Ende 1992 deportiert worden waren.
In einer Presseerklärung erklärt Hamas, wohl um einer neuen Verhaftungswelle vorzubeugen, daß der Anschlag nicht von Gaza aus dirigiert wurde. Dennoch wird der Gaza-Streifen jetzt, wie schon nach der Wachsman-Entführung, total abgeriegelt. Vor dem israelischen Checkpoint „Eretz“ übernehmen palästinensische Sicherheitskräfte die Sperrung noch innerhalb des Gaza-Streifens.
Auf der israelischen Seite stehen am Abend in einer endlosen Schlange Zehntausende von palästinensischen ArbeiterInnen, die am Mittwoch morgen vor Sonnenaufgang und nach einer langwierigen Sicherheitsprozedur nach Israel hineingelangt waren. Sie kommen nun zurück in ihr abgeriegeltes „Autonomiegebiet“. Und warten dort mit ihren Landsleuten auf die nächste Stufe der Eskalation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen