Sonntagsreden

■ betr.: „Die Re-Infantilisierung der Bürger“, taz vom 17.10.94

In dem Artikel funkt, kracht und donnert es ja gewaltig, ganz die Mischung aus aufgequollenem Pathos und gestelztem Soziologendeutsch, die man mit neudeutschen Sonntagsreden verbindet. Was am Ende als Aussage bleibt, ist weniger Kritik an den Altparteien als vielmehr die dünkelhafte Behauptung, „der Bürger“ sei aufgrund „gespaltenen Denkens“, wegen seiner kleingeistigen Egozentrik, allzu empfänglich für „Re-Infantilisierung“.

Kinder brauchen Lehrer, Oberlehrerin Christmann steht schon bereit. Niemand braucht sie.

Daß die Bürger keineswegs „re- infantilisiert“ werden können, zeigt die durchgehend abwinkende Reaktion auf den Reklamewahlkampf ebenso wie die wachsende Zahl von Wechselwählern, aus deren Verhalten Kalkül spricht.

Das Kalkül des Egoismus natürlich, der gleiche Antrieb, den auch Bürgerinitiativen haben. Das hat weniger etwas mit der Demokratie als mit dem alten Adam zu tun. Von Bürgerinitiativen können Altparteien allenfalls das St.-Florians- Prinzip lernen. Was den Umgang mit dem aufgeschlossenen, nörgelnden, informierten Bürger betrifft, so hat „die Politik“ schon längst die direkten Formen der Demokratie in Entscheidungswege eingebaut.

In der neuen Kommunalverordnung von NRW beispielsweise erhalten die Bürger viele Möglichkeiten, sich in Entscheidungsvorgänge einzuschalten, gleichzeitig wird aber dem lokalen Egoismus die Spitze genommen, weil eine erhebliche Zahl von Unterstützern eines Begehrens nötig ist. So wird die „Demokratie“ dann wieder zum Mittel, um Veränderungen zu bewirken oder aufzuhalten.

Was die Politik auf Bundesebene betrifft, so hat sie ohnehin ihre eigene Kritik widerlegt. Es stimmt eben, daß viele grundlegend wichtige Entwicklungen dem Einfluß des Nationalstaats entzogen sind. Einmal weil sie in der Ukraine oder im Regenwald ihren Ursprung haben, dann natürlich, weil der Nationalstaat immer mehr Kompetenzen an Staatenzusammenschlüsse abgibt. Gerade deshalb kann sich aber auch niemand von einer Reform innerhalb eines Nationalstaates irgendeinen dauerhaften Effekt versprechen.

Die „Demokratie“ als demokratischer Nationalstaat ist ein Auslaufmodell. Wir haben eine Erweiterung demokratischer Rechte auf kommunaler Ebene, wir brauchen sie dringend auf europäischer.

Im Wahlkampf stimmen bei der Präsentation der Parteien als politisches „Nichts“ nur Inhalt und Form überein: Sie geben sich so, weil sie es einfach zunehmend werden. Das ist nicht hauptsächlich ihre Schuld. Wie Frau Christmann treffend bemerkt, kann Kohl nichts machen, wenn Clinton und Jelzin nicht wollen – noch besser wäre es, zu sagen, wenn die EG- Partner nicht wollen. Nur ist schleierhaft, was der von ihr gezeichnete Neubürger daran ändern könnte oder ein inhaltsreicher Wahlkampf.

Was wir brauchen, darüber gibt es verschiedene Ansichten, eines ist aber klar: Die klugscheißerhaften Redensarten über „Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation, fortlaufende gegenseitige Weiterbildung“, dieses ganze Sprach-Panoptikum nach Art des unsäglichen BP v. Weizsäcker brauchen wir nicht. Paul Grosch, Mitglied Bündnis 90/Die Grünen, Aachen