: Wackelnde Bilder mit Geräuschen
Viper 94, das Film- und Videofestival in Luzern, schickte sich an, das Phänomen MTV zu erklären ■ Von Andreas Becker
Im Abteil des ICE nach Zürich spielt jemand mit seinem Laptop. Der Anfang einer Melodie ertönt, der Mann entschuldigt sich bei den Mitreisenden für die kleine Lärmbelästigung. Woher kennt man nur diese Tonfolge? Na klar, Beavis and Butthead! Diese beiden notorischen Schwachköpfe, die ihren Peacezeichen tragenden Hippielehrer auf immer neue Geduldproben stellen, sind die Sympathieträger des Musikkanals MTV – und der Neunziger. Unlängst konnte man ihre Namen in metergroßen Lettern in den Sandstrand eines kleinen irischen Badeortes geritzt sehen. Fährt man in Richtung Osten, schlägt einem auch in Rußland als erstes bewegtes Bild schon in der Hotelhalle das MTV-Logo entgegen. 120 Millionen Zuschauer hat der Musikkanal in Europa.
PC-Manie auf Schwyzerdütsch
Das Film- und Videofestival im schweizerischen Luzern, das in der vergangenen Woche zum fünfzehnten Mal stattfand, hat mit einer Retrospektive, Vorträgen und Diskussionen versucht, sich dem Phänomen MTV zu nähern. Vom Long Beach Museum Of Art in Kalifornien übernahm man eine Reihe mit fünf Videoblöcken. Und ein bißchen sieht es so aus, als hätte der Lehrer von Beavis and Butthead die Videos sortiert und etikettiert: Man hat versucht, die ersten zehn Jahre MTV seit seiner Gründung 1981 didaktisch an die Couchkartoffel zu bringen. „Musik Video und die Politik des Tanzes“, „Sexhandel und Geschlechterpolitik“ oder politisch noch korrekter: „Rap: Widerstand gestalten“. Hübsch, wenn die amerikanische PC-Manie einfach rückübersetzt wird ins Schwyzerdütsche.
So sehen wir denn Ice Cube vor den Bullen in Compton flüchten oder den Sänger der Cramps als blutverschmierte Zangengeburt in die Arena hüpfen. Bongwater beschwören die visuelle Kraft der Übermutter. „The Power of Pussy“ heißt der Song, und die sollen wir dann auch in Ganzkörper- Netzstrümpfen sehen.
Was nun also ist MTV? Ein Fernsehkanal, könnte man profan feststellen. Doch diese Antwort reicht Viper 94 nicht. Die Antwort muß irgendwo zwischen „Museum der Postmoderne“ und „eine Abfolge von Werbefilmen“ liegen. So formuliert es Herbert Gehr, Mitarbeiter des Filmmuseums Frankfurt am Main, der die Videoauswahl vom Long Beach Museum quasi ausgeliehen hat. MTV gibt sich gern fortschrittlich, macht Reklame für Multikulti-Ehen, für die Teilnahme an der amerikanischen Präsidentenwahl (Madonna halbnackt in der US-Fahne, was die wohl wählt?) und propagiert das Küssen von Aidskranken. Alles sehr schön ehrenhaft. Der Kontext aber bleibt, fast schon peinlich das noch explizit zu erwähnen, rein kommerzieller Natur.
Ist MTV also eine permanente Lüge? „Da schlägt der Zynismus voll durch“, meint Gehr. „MTV hat sich jahrelang geweigert, schwarze Gruppen zu präsentieren. Maßgeblicher Faktor für das Programm ist die Buchung von Werbezeit. Wenn der kommerzielle Druck so groß wird, daß man mit schwarzer Musik Turnschuhe verkaufen kann, dann wird die auch präsentiert.“
Ebenfalls Gast der Viper 94 war Michael Altrogge von der Berliner Freien Universität, der sich seit Jahren wissenschaftlich mit Musikvideos beschäftigt. Er hat zu Beginn seiner Arbeit einen Selbstversuch gestartet: Fünf Tage lang hat er acht Stunden lang MTV geschaut. In Luzern versucht er in einem Vortrag, Prince' „Alphabet Street“ zu „re-de-konstruieren“.
Postmoderne Klugheiten
Mit dem Sehen allein ist es also nicht getan. Videoclips sind eine rasante Abfolge von oftmals disparaten Fragmenten. Diesen Teilen nachträglich Sinn zuzuschreiben will aber auch bei der Viper nur selten gelingen. Und während am Büro der Festivalleitung im Luzerner Kulturpanorama (wo man seine „mentalen Interfaces“ auf den Computerbildschirm starren lassen kann) draußen mit Tschingdarassabum ein Spielmannszug vorbeidonnert, versuchen es drinnen die Referenten mit postmodernen Klugheiten.
Zum Beispiel der Schweizer Philosoph Gerhard Johann Lischka. Lischka hat sie alle gelesen. Und spricht nun von „Altfreund“ Flusser und Altfreund „Virilio“. „Alles ist Secondhand, alles wird zum Logo, die Realität verschwindet, und hinten an der Ecke hat neulich der zweite McDonald's von Luzern aufgemacht.“ Und das findet man irgendwie schlimm, obwohl es natürlich auch irgendwie interessant ist, daß die Leute dieses Zeugs da essen. Lischka findet auch Videos irgendwie schlimm, „aber es gibt gute und schlechte“. Er beklagt den Verfall der Kultur, und dieses Lamento gilt per se als fortschrittlich. Diedrich Diederichsen weiß es besser, aber der ist leider nicht hier.
Informativer und erhellender ist der Vortrag mit Filmbeispielen von Mathias Michel. Der beginnt den Videoreigen bei den Beatles, die 1964 mit „A Hard Day's Night“ den ersten erfolgreichen Musikfilm machten. Weiter geht's mit The Who und „Tommy“, Andy Warhol, dem Bananencover von Velvet Underground zu den Residents und so weiter.
Nur für den englischen Regisseur John Maybury, der mit Derek Jarman gearbeitet hat und der auf der Viper 94 den ersten Preis für seinen neuen Film gewinnt (kein Musikvideo), liegt das Problem nicht zwischen Kunst und Kommerz. MTV ist Kommerz und Kunst. Ganz einfach. Das Geld, das Maybury für Videos wie Sinead O'Connors „Nothing Compares 2U“ kassiert, gibt er sofort wieder für seine „Avantgardefilme“ (wie er sie ausdrücklich nennt) aus. „Natürlich sind die meisten Videos blödsinnig“, sagt er, „aber ich zeige meine Filme lieber 30 Millionen Teenagern als 30 Intellektuellen.“
Die Realität ist eine plane Fläche mit wackelnden Bildern und Geräuschen. Merkwürdig nur, wenn man nachts am Vierwaldstättersee im Nebel spazierengeht und plötzlich einen jungen Herren trifft, der ausschweifig erzählt, daß er tagsüber in Damentoiletten durch Löcher späht. Das sei aber nicht so schlimm, denn die Löcher, das beteuert er, hat er nicht selbst gebohrt.
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