■ Nebensachen aus Bukarest: Warum hält ein Autofahrer am Zebrastreifen?
In der rumänischen Hauptstadt Bukarest wird der Besucher seit neuestem Zeuge von allerlei wundersamen Vorfällen: An den noch funktionierenden Ampeln ist zu beobachten, wie Fußgänger das grüne Licht abwarten. Desgleichen kommt es vor, daß ein Autofahrer am Zebrastreifen anhält, um eine verängstigt wartende Mutter mit ihrem Kind die Straße überqueren zu lassen. Überhaupt nimmt die Zahl der Menschen, die nicht mehr wie gejagtes Wild über eine Kreuzung hetzen, zu. Und Taxifahrer, sonst als inoffizieller Formel-1-Nachwuchs berüchtigt, bitten den Fahrgast nun, langsam fahren zu dürfen.
Grund der merkwürdigen Vorfälle, welche immer nur in der Nähe von Polizisten geschehen, ist jedoch nicht eine überraschende Einsicht der Verkehrsteilnehmer, sondern ein neues Gesetz über Geldstrafen für Ordnungswidrigkeiten. Dieses erhöhte die Strafen mit Wirkung vom 1. Oktober um Hunderte oder gar Tausende von Prozent. Wie üblich mußten die Abgeordneten einen Akt zustande bringen, den Einheimische unter dem Schlagwort „typische Bukarester Betrügerei“ kennen. Die geht in diesem Fall so: a) neue Quellen für die von großzügiger Selbstbedienung geschröpften Staatskassen finden, b) dabei die eigene Klientel, zum Beispiel Direktoren staatlicher Kombinate, schonen, und c) behaupten, somit das Möglichste zur „Einführung einer gewissen Zivilisiertheit“ getan zu haben.
Wer nicht am Zebrastreifen anhält (bislang straflos geduldet) oder zu schnell fährt, bezahlt nun bis zu 100.000 Lei — 100 Mark und damit drei Viertel eines normalen Monatslohnes. Erwischt die Polizei einen Taxifahrer, der seinen Fahrgast zwecks Einsparung der 50prozentigen Gewinnsteuer ohne eingeschaltete Uhr befördert, sind 300.000 Lei (300 Mark) fällig. Im Falle von Umweltverbrechen dagegen dürfen Behörden höchstens 10 Millionen Lei (10.000 Mark) Geldstrafe verhängen. Soweit die Relationen.
Im Straßenverkehr ist mit dem neuen Gesetz für die Polizei endlich ein Tätigkeitsfeld gefunden worden. Ein leichtes obendrein. Den massenweisen illegalen Benzintransport nach Serbien zu bekämpfen, haben die ohnmächtigen Ordnungshüter aufgegeben, seit die Schmuggler Polizisten einfach niederschießen, wenn diese aufdringlich werden. Und wer gegen die Korruption im Staatsapparat vorgehen will, riskiert Disziplinarmaßnahmen vom Vorgesetzten.
Aber wenn auch sonst an allem, an schöpferischer Arbeitsbeschaffung mangelt es nicht! In Bukarest werden nun immer mehr Ampeln abgeschaltet und dafür gut ausgeruhte Polizisten an Kreuzungen plaziert. Effektiv bedeutet das nicht nur größere Autorität gegenüber Autofahrern. Es kann auch elektrische Energie gespart werden, was unweigerlich zu einer geringeren Zahl von täglichen Stromausfällen führen wird.
Wie die neuen Geldstrafen in der Praxis angewendet werden, erfährt der Besucher auf der Bukarester „Straße des Sieges“. Hier wärmt sich ein Freund und Helfer in der Herbstsonne und schaut den Autos, welche über den Zebrastreifen rasen, verträumt nach. Angesichts dessen keinen Sinn in einem Umweg zum Zebrastreifen sehend, nimmt der Berichterstatter einen direkteren Weg zur anderen Straßenseite. Da pfeift der Polizist schrill, winkt das Opfer heran und schreit mächtig auf selbiges ein. Dazu fuchtelt er mit dem Strafzettel. Zwanzigtausend will er. Mit demütigen, weinerlichen Selbstbezichtigungen gelingt es, die Summe auf Null zu handeln. „Zum letzten Mal“, schreit der Polizist und zieht sich auf seinen Posten zurück, wo er erst mal gemütlich raucht. Gerade wieder springen Passanten am Zebrastreifen erschrocken zurück — ein Autofahrer hat sich den Weg freigehupt. Keno Verseck
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