Gebremstes Wachstum im Osten

■ Der Ostberliner Abgeordnete Christian Pulz von Bündnis 90/Die Grünen zu den Konsequenzen, die seine Partei aus dem Ergebnis der Bundestagswahlen ziehen sollte

taz: In Westberlin erreichten Bündnis 90/Die Grünen über 12 Prozent, im Osten 6,9 Prozent. Hat das Zusammengehen mit den Grünen das Bündnis 90 geschwächt?

Christian Pulz: Offensichtlich haben die Ostwähler die Vereinigung der beiden Parteien nicht belohnt. Ich bedauere sie dennoch nicht, denn wir hatten keine andere Möglichkeit, lagen programmatisch sehr nahe beieinander. Man hätte allenfalls darüber nachdenken sollen, ob man deutlicher kooperative Formen hätte verwirklichen können.

Woran liegt es, daß im Osten die Ergebnisse derart schlecht ausgefallen sind?

Im Gegensatz zum Westen haben wir keinen alternativen Mittelstand, dessen hervorstechendstes Merkmal ein relativer Wohlstand ist. Denn: Grüne Ideologie war und ist auch zum Teil eine Antwort auf verfehlte Wohlstandsentwicklung. Im Osten herrscht jedoch in allen politischen Fragen der Grundsatz vor: Wir brauchen Wachstum, um die Probleme zu lösen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist gegenüber einem Thema wie der Ökologie wenig empfindsam.

Ist das ein Ergebnis der realsozialistischen Wachstumsideologie?

Die Philosophin Hannah Arendt hat gesagt: Der Totalitarismus verdirbt eine Gesellschaft bis ins Mark. Das betrifft auch Themen wie die Ökologie, die im Wachstumsfetischismus des Ostens keinen Platz hatten. Deshalb bleibe ich dabei, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht von unseren übrigen Sachthemen getrennt werden darf. Ein Teil unserer Wahlschlappe müssen wir auch ein Stück weit in dem nicht aufgearbeiteten Fortschrittsglauben der DDR suchen. Für grüne Inhalte, die letztlich auch Verzicht und Einschränkung bedeuten, gibt es derzeit wenig Akzeptanz im Osten.

Westgrüne kritisieren, die Ostprominenz hätte die Aufarbeitung der Vergangenheit zu stark in den Vordergrund gerückt und damit alle anderen Themen übertüncht.

Wir müssen die Schwierigkeiten einer ökologischen Umorientierung und eines gebremsten Wachstums für das Gebiet der ehemaligen DDR ins Auge fassen. Dafür ist Vergangenheitsbewältigung notwendig. Eine Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Ideologie, die immer auch Wachstumsideologie war und bis heute in vielen Köpfen fortwirkt, ist notwendig. Ich erinnere daran, daß es auch im Westen nicht bequem gewesen ist, über Ökologie zu reden.

Was heißt für Sie „gebremstes Wachstum“?

Es gibt einen großen Unterschied: Im Westen müssen wir in der Tat gegen das Wachstum wirken. Im Osten gibt es aber Gebiete, wo wir ein bestimmtes Wachstum brauchen, das allerdings deutlich und von vornherein ökologisch untersetzt sein muß. Die Revolution vom Herbst 1989 fand im wesentlichen statt, weil die Menschen mit der ökonomischen Rückständigkeit, dem Mangel und der daraus resultierenden Verteilung der Waren unzufrieden waren.

Ging der Wahlkampf also am Osten vorbei?

Selbstkritisch muß ich sagen: Auch wir Ostdeutschen haben uns im Wahlkampf nicht genügend eingebracht. Die von den Westgrünen formulierten Prinzipien einer „ökologischen, feministischen und radikaldemokratischen Partei“ sind zwar alle richtig und haben offenbar für den westdeutschen alternativen Mittelstand einen großen Symbolwert. Im Osten müssen sie aber moderiert und modifiziert werden. Hier ist die Arbeitslosigkeit so hoch, daß zunächst einmal die Frage nach der Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten beantwortet werden muß. Wir dürfen uns nicht davor drücken, die Frage zu beantworten, in und auf welchen Gebieten der ehemaligen DDR ein gewisses Mehr an Lebensstandard, an Wachstum notwendig ist. Für die Partei heißt daher die Konsequenz: Sie muß sich auf ökologischem Gebiet auf eine langfristige, intensive Überzeugungsarbeit einstellen.

Soll Bündnis 90/Die Grünen eine „linke Alternative“ neben der PDS sein – oder haben Sie Schwierigkeiten mit diesem Schlagwort?

Ich verwende diesen Begriff selten. Doch im Gegensatz zu manchen meiner politischen Freunde würde ich ihn auch nicht verlieren wollen. Er beschreibt immer noch brauchbar den politischen Ort der Emanzipation. Es wird aber notwendig sein, sich abzugrenzen. Wir müssen die demokratische Linke sein, die allen totalitären Vorstellungen von Diktatur, Zwang und Gewalt eine Absage erteilt.

Wie soll mit der PDS umgegangen werden?

Die PDS als linksextremistische Partei zu bezeichnen, wäre eine verkürzte Darstellung der Wirklichkeit. Sie ist mehr Milieu als Partei. In Berlin kann ich mir keine Situation vorstellen, in der es eine Koalition mit der PDS gibt. Nicht zwischen uns und der PDS, sondern zwischen der PDS und den Sozialdemokraten wird sich das Drama abspielen. Beide Parteien haben eine lange, furchtbare Geschichte, die sie miteinander austragen werden. Beide sprechen bestimmte Arbeiternehmerschichten an, sind in sich strukturkonservative Organisationen. Wenn wir in deren politisches Bett hineingehen, fliegen wir mit unseren weitaus unpopuläreren ökologischen Forderungen sehr schnell wieder hinaus. Ich zweifele daran, ob wir in eine SPD-PDS-Annäherung irgendwelche Inhalte einbringen könnten. Unser Platz wäre in solch einem Fall der einer wohlverstandenen emanzipatorischen, linken Opposition.

Im Dezember stehen die Wahlen zum Bundesvorstand Ihrer Partei an. Welchen Ratschlag geben Sie Ihren Freunden mit auf den Weg?

Auf alle Fälle sollte es nicht zu gegenseitigen Ausgrenzungen kommen, sondern weiterhin alle Richtungen und Strömungen integriert werden. Ich wünsche mir, daß Marianne Birthler oder eine Person, die ähnliche Positionen vertritt, wieder in den Vorstand gewählt wird. Mit Positionen, wie sie Birthler vertritt, muß sich die Partei weiter auseinandersetzen, anderenfalls droht ein Auseinanderbrechen. Man sollte nicht vergessen: Gerade die Bürgerbewegung hat viele realistische Kräfte im Westen gestärkt. Interview: Severin Weiland