Von der Korruption zum Koran

Was US- und UNO-Truppen nicht schafften, soll jetzt in immer mehr Teilen Somalias eine neue islamische Ordnung erreichen: Das Chaos beenden  ■ Aus Mogadischu Bettina Gaus

Die katholische Kathedrale im Zentrum Mogadischus ist in den letzten Jahren mehrfach bei Kämpfen zwischen verfeindeten somalischen Fraktionen von Artilleriegeschossen getroffen worden. Jetzt ist von den beiden wuchtigen Türmen nur noch ein schmaler Stumpf übrig, der sinnlos in die Höhe ragt. Für die endgültige Zerstörung der Kirche aber ist nicht der Bürgerkrieg verantwortlich. Radikale Islamisten haben das Gebäude vor etwa einem halben Jahr in die Luft gesprengt.

Nach beinahe vier Jahren, in denen Chaos, Hunger und Gewalt Somalia regierten, finden jetzt Verfechter einer islamischen Ordnung Zulauf in einem Land, das auf eine jahrhundertelange Tradition liberaler Religiosität zurückblickt. „Natürlich hatten wir von der UNO erwartet, daß sie uns bei der Entwaffnung und der nationalen Versöhnung helfen würde und daß wir dann eine Regierung haben würden. Aber das ist nicht geschehen. Niemand hat uns einen Weg gezeigt, der unsere Probleme lösen kann“, meint Sheik Scharif Muhyiddin.

Der Theologe, der auf einem Teppich im Innenhof seines Hauses in Mogadischu junge Männer in der Auslegung des Korans unterweist, glaubt den Ausweg zu kennen: Er ist der Vorsitzende eines Komitees zur Einführung islamischer Gerichte. Im Norden der Hauptstadt, dem Machtbereich des Fraktionschefs Ali Mahdi, urteilen seit dem 11. August acht Richtergremien Angeklagte entsprechend der Scharia ab. Geschäftsleute zahlen Abgaben zur Finanzierung der rund 200 Mann starken Gerichtsmiliz, die als derzeit disziplinierteste und schlagkräftigste Mogadischus gilt.

Zwölf Männern und einer Frau ist seit Einführung der Scharia als Dieben eine Hand abgehackt worden, in einigen besonders schweren Fällen außerdem noch ein Fuß. Die Gliedmaßen wurden zur Abschreckung öffentlich ausgestellt, an Pfähle gebunden. Etwa 70 Angeklagte wurden wegen Drogenmißbrauchs, Trunkenheit und kleinerer Diebstähle ausgepeitscht.

Verteidiger gibt es bei den islamischen Gerichten nicht: „Das ist nicht nötig, denn es gibt dort keine Ungerechtigkeit“, erklärt der Sheik. „Der Koran würde Ungerechtigkeit nicht zulassen.“ Langfristig wünscht er sich eine Regierung, die die Gebote des Koran zum Maßstab nimmt, und ein System, das es Frauen vorschreibt, sich zu verschleiern, und es ihnen verbietet, sich mit Männern, mit denen sie nicht verwandt sind, auf der Straße zu zeigen.

Die islamischen Gerichte wird es seiner Überzeugung nach schon bald im ganzen Lande geben. „Scharia gilt bereits in der Region Gedo. Darüber hinaus sind wir von Leuten aus Bay um Rat gefragt worden und auch von Repräsentanten der nordöstlichen Gebiete.“ Im Süden der Hauptstadt hat General Aidid allerdings bislang der Forderung von Sheiks seines Territoriums nach Einführung der Scharia nicht nachgegeben.

Bei vielen Anwohnern sind die drakonischen Maßnahmen populär. „Wir brauchen den Koran“ und „Wir unterstützen die islamischen Gerichte“ ist auf Häuserwänden als Parolen zu lesen. „Jetzt kann ich endlich wieder auch abends auf die Straße und dabei sogar Schmuck tragen“, meint die Hausangestellte Amina Mouse. „Vorher hatten wir immer Angst vor Überfällen.“ Vor einer Woche hat sie zugesehen, wie zwei junge Männer ausgepeitscht wurden: „Sie haben mir nicht leid getan.“

Auch der Arzt Abdikarim Aser betont, daß er sich zum ersten Mal seit langer Zeit abends wieder auf die Straße traue: „Jeder hier in der Gegend akzeptiert die islamischen Gerichte. Es muß eine Grenze für die Freiheit geben.“

Die neue Sicherheit verändert das Straßenbild. Waffen sind kaum noch zu sehen. Auf dem Markt zählen Geldwechsler in aller Öffentlichkeit Bündel von Scheinen. Frauen tragen beim Einkauf goldene Ringe an den Fingern. Der italienische Geschäftsmann Gian Carlo Maroccino, der fast den ganzen Bürgerkrieg über in Mogadischu ausgeharrt hat, versorgt seit einigen Wochen mehrere Straßenzüge in der Umgebung seines Hauses mit Straßenbeleuchtung aus dem Generator.

Hier herrscht abends ein Treiben wie auf einem Volksfest: Restaurants und kleine Geschäfte sind bis spät in den Abend hinein geöffnet. Auf einem Platz spielen Jungen Fußball. Der Dachgarten eines Hauses ist zum Kino geworden: Für 300 Schilling pro Person, weniger als der Preis einer Tasse Tee, drängen sich etwa 60 Männer um einen Fernsehapparat und warten auf den angekündigten Videofilm. Im Vorprogramm gibt's Musik, leicht verzerrt dringt es aus dem Lautsprecher: „Give me a future – gib mir eine Zukunft!“

Die sieht für die meisten Einwohner Somalias nach wie vor düster aus. Vertreter der UNO hoffen, daß sich noch im Oktober alle Bürgerkriegsfraktionen zu einer seit langem geplanten Konferenz der nationalen Versöhnung zusammensetzen. Doch ist wenig wahrscheinlich, daß die maßgebenden Fraktionsführer bei dem für den 27. Oktober angekündigten Treffen überhaupt erscheinen. Und auch dann bliebe der Erfolg offen: Mehrfach bereits haben sich die beiden Hauptrivalen Ali Mahdi und General Aidid vor laufenden Kameras umarmt und ihren Friedenswillen betont, um unmittelbar danach zum Alltag ihrer Feindschaft zurückzukehren.

„Ich glaube nicht, daß wir noch in diesem Jahr eine Regierung haben“, meint der ehemalige Parlamentspräsident Mohammed Ibrahim Ahmed, der sich in den letzten Monaten um Vermittlung zwischen Mahdi und Aidid bemüht hat. „Bisher sehe ich in keiner der wichtigen Fragen irgendeinen Kompromiß.“ Selbst für politisch interessierte Somalis ist es schwierig geworden, den Überblick über die wechselnden Bündnisse und Zerwürfnisse zwischen den Fraktionschefs zu behalten. Mohammed Ibrahim Ahmed zuckt die Achseln: „Die Beziehungen zwischen diesen Leuten sind dauernd im Fluß, weil sie um die Macht kämpfen. Sie sind nicht stabil.“

Von den noch immer rund 17.000 UNO-Soldaten, die in Somalia stationiert sind, ist in der Hauptstadt kaum etwas zu sehen. Bis zum Monatsende soll ihre Zahl auf 15.000 verringert werden. Die Zeichen des Rückzugs sind unübersehbar. Das Bataillon im Norden Mogadischus ist vom Gelände der ehemaligen Coca-Cola-Fabrik zum schwer zugänglichen alten Hafen verlegt worden. Aus dem Polizeilager in einem wegen seiner Gefährlichkeit „Bermudadreieck“ genannten Stadtviertel sind die UNO-Soldaten ganz abgezogen, ebenso aus der als besonders unsicher geltenden Gegend um das alte Parlament und aus den Orten Balaad und Bali Dogle.

Auch die internationalen Hilfsorganisationen haben Somalia in großer Zahl verlassen: Concern, Save The Children UK, das Internationale Rote Kreuz sind nur einige Beispiele. Auch das UNO- Welternährungsprogramm WFP hat seine ausländischen Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen evakuiert: „Im letzten halben Jahr sind wir mehrfach von Bewaffneten belagert worden, das letzte Mal vor einer Woche“, erklärt Kofi Owusu-Tieku vom WFP. Die Organisation sieht sich mit Forderungen nach Entschädigung entlassener Mitarbeiter konfrontiert.

Noch immer sind Ausländer die größten Arbeitgeber in Somalia. Allein bei der militärischen Operation der UNO sind ständig rund 4.000 Somalis beschäftigt. Zwar herrscht im Land gegenwärtig kein Hunger, aber die zerstörte Infrastruktur des Landes ist nicht wieder aufgebaut worden: keine der großen Fabriken ist wieder in Betrieb, es gibt keinen Strom, die Telefonleitungen wurden nicht repariert, die Wasserversorgung ist unzureichend.

Auch die Bereiche, in denen sich die UNO um Wiederaufbau bemüht hat, wie Polizei und Justiz, genießen bei vielen Somalis keinen guten Ruf: „Alles ist korrupt. Wenn du 300.000 Schilling (60 Dollar) zahlst, läßt dich jeder Richter, den die UNO berufen hat, aus dem Gefängnis. Kein Wunder, er verdient schließlich weniger, als die UNO ihren Sekretärinnen zahlt“, sagt der ehemalige Rechtsanwalt Hassan Omar D'Heghey. „Die Fahrzeuge der Polizei werden wie Taxis benutzt. Der Polizeichef von Mogadischu gehörte zu den berüchtigsten Schergen von Diktator Siad Barre. Was für ein Vertrauen soll ich in dieses System haben?“

Hassan Omar D'Heghey ist einer der somalischen Intellektuellen, die die Einführung der Scharia mit Sorge beobachten: „Diese Art der Bestrafung ist inhuman.“ Er steht damit nicht alleine da. „Wer sind diese Leute?“ fragt der ehemalige Parlamentspräsident Mohammed Ibrahim Ahmed. „Ohne Regierung und Verfassung haben sie keinerlei Legitimität. Dieses Land ist im Zustand der Anarchie, und das ist Teil der Anarchie.“

Die Biologin Starlin Arush, Mitbegründerin einer somalischen Frauenorganisation, meint, daß nach all der Gewalt der letzten Jahre statt drakonischer Strafen erst einmal ein Prozeß der Umerziehung in Gang kommen müsse: „Diese Leute sind aufgefordert worden, zum Gewehr zu greifen und einen anderen Clan zu bekämpfen. Das ist alles, was sie wissen. Ihnen muß erst wieder ein normales soziales Verhalten beigebracht werden.“

Auch sie fragt sich, wie viele in Mogadischu, wer hinter der islamistischen Bewegung steckt. „Ich habe mir diese Frage Tag und Nacht gestellt und sie zwanzig wichtigen Leuten vorgelegt. Niemand kennt die Antwort“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Abukar Abikar. Sheik Scharif Muhyiddin bestreitet jede ausländische Unterstützung seiner Bewegung. Aber die Gerüchte in Mogadischu reichen von Mutmaßungen über Hilfe aus dem Iran, aus Saudi-Arabien oder dem Sudan bis hin zu dem Glauben, die USA seien die Drahtzieher der Entwicklung, „um einen Vorwand zu haben, hier wieder einzumarschieren“.

UNO-Mitarbeiter William Bergquist findet diese Überlegungen eher überflüssig: „Selbst wenn Geld aus dem Ausland fließt, schreckt mich das nicht. Ich bin seit zwei Jahren hier, und ich weiß, daß die Somalis das Geld nehmen würden und dann sagen ,o.k., wir sehen uns später‘. Wahrscheinlich würden sie sich nicht einmal bedanken. Somalische Überzeugungen und Lebensart lassen sich nicht durch ausländisches Geld verändern.“

Gegenwärtig geht es für die meisten Bewohner Mogadischus vor allem darum, inmitten des Chaos zu überleben. Handwerker haben auf Häuserruinen mit frischer Farbe kunstvolle Reklamebilder gemalt. Vor Straßencafés im Süden der Stadt stehen nagelneue Stühle und Tische. Von mehreren öffentlichen Satellitentelefonen in der Stadt aus läßt es sich billiger nach Europa telefonieren als vom benachbarten Kenia. Geschäftsleute haben sich zum gemeinsamen Import von Zucker, Öl und Mehl zusammengetan. Immerhin 34.000 Dollar habe er im letzten Jahr damit verdient, sagt einer von ihnen. „Von meinen 200 Angestellten haben in den letzten zwölf Monaten 22 geheiratet“, erzählt der Geschäftsmann Gian Carlo Maroccino. „Im Jahr davor war es gar keiner. Aber irgendwie geht es eben immer weiter.“