■ Die letzten Hürden vor einer Haftentlassung der RAF-Gefangenen Irmgard Möller scheinen genommen. Können Christine Kuby und die anderen Langzeitgefangenen der RAF mit einer ähnlichen Lösung rechnen?: Das Ende eines Beißkrampfs
Die letzten Hürden vor einer Haftentlassung der RAF-Gefangenen Irmgard Möller scheinen genommen. Können Christine Kuby und die anderen Langzeitgefangenen der RAF mit einer ähnlichen Lösung rechnen?
Das Ende eines Beißkrampfs
Der gordische Knoten ist durchschlagen. Doch in dieser Sache kann selbst das Sortieren der gelösten Fesseln noch einmal Wochen beanspruchen. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lübeck wird sich für die „vorzeitige“ Entlassung der zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Gefangenen Irmgard Möller aussprechen. Nach über 22 Jahren in der Zelle kommt damit die Frau frei, die in Deutschland am längsten einsitzt. Den letzten wirklich ernsthaften Stolperstein räumte jetzt Andreas Kernbichler beiseite.
Lange hatte sich der Psychologe geweigert, Irmgard Möllers künftige „Ungefährlichkeit“ allein aufgrund von Akten und ohne „persönliche Exploration“ zu beurteilen. Nach der mündlichen Anhörung Möllers vor der Strafvollstreckungskammer Ende Juni dieses Jahres, bei der Kernbichler anwesend war, wußte er offenbar genug. Nun hat der vom Gericht bestellte Gutachter seine Expertise abgeliefert. Zwar seien die Einlassungen der Gefangenen zur Frage der Gewalt widersprüchlich, heißt es darin. Trotzdem kommt Kernbichler zu dem Schluß, „daß die in den Taten [Möllers, d. Red.] zutage getretene Gefahr nicht weiterbesteht“. Auch er glaubt jetzt, was fast alle — vom Landgericht Lübeck über die Justizministerien in Bonn und Kiel bis hin zur Bundesanwaltschaft — schon lange wissen: Irmgard Möller denkt gar nicht daran, noch einmal gegen diesen Staat zur Waffe zu greifen.
Es liegt nun an der Staatsanwaltschaft Heidelberg, die Möller zu ihrer lebenslangen Strafe verurteilte, ob dem endlosen „Gewürge“ (Möller) noch ein letzter peinlicher Akt folgt. Oder ob es genug ist. Die Staatsanwaltschaft, ihr Dienstherr ist der Stuttgarter Justizminister Thomas Schäuble (CDU), hatte in der Vergangenheit mehrfach ihre Unlust bekundet, Möller freizulassen, ohne daß von der Gefangenen eine unzweifelhafte Distanzierung von Gewalt vorliegt. Bis zum 30. Oktober soll die Anklagebehörde nun, wie auch Möllers Anwälte, zu Kernbichlers Gutachten Stellung beziehen. Eine ablehnende Einlassung würde die Strafvollstreckungskammer voraussichtlich ignorieren und Möller trotzdem entlassen.
Gegen einen solchen Beschluß können die Heidelberger Ankläger theoretisch „sofortige Beschwerde“ beim Oberlandesgericht (OLG) einlegen, das dann endgültig entscheiden müßte. Doch zu diesem allerletzten Versuch, Möller weiter festzuhalten, wird es nach Informationen der taz nicht kommen. Auch Baden- Württemberg ist inzwischen an „einem positiven Ausgang des Verfahrens interessiert“, hieß es gestern aus Justizkreisen.
Irmgard Möller war 1979 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. 1972 soll sie an einem Sprengstoffanschlag der RAF auf das Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg beteiligt gewesen sein, bei dem drei Soldaten starben. Das Urteil basierte auf den Aussagen eines „Kronzeugen“, den es damals im juristischen Sinne noch gar nicht gab. Der Anschlag richtete sich „gegen die Massenmörder von Vietnam“. 1977 überlebte Möller als einzige der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Kader die Todesnacht vom 17. Oktober. Bis heute bestreitet sie vehement den Selbstmord des RAF-Führungstrios Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe und ihren eigenen Selbstmordversuch. Bereits im November 1992 stellte Irmgard Möller gemeinsam mit sechs anderen Gefangenen aus der RAF den Antrag auf „vorzeitige Entlassung“, über den nach dem jahrelangen Gezerre um das psychiatrische Gutachten nun endlich entschieden werden soll.
Das Entlassungsverfahren Irmgard Möllers wurde in der Justiz, aber auch unter den Gefangenen immer als zentrale Entscheidung für die Freilassungsprozedur anderer RAF-Langzeitgefangener betrachtet. So auch gestern: „Wenn Möller positiv entschieden ist, lösen sich andere Fälle fast von allein“, sagt ein auf Bundesebene mit der Materie befaßter Beamter. Über fünfzehn Jahre — die Mindesthaftdauer für Lebenslängliche — sitzen neben Möller sieben weitere Gefangene aus der RAF ein: Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe und Lutz Taufer (alle 19 Jahre), Knut Folkerts (17 Jahre), Christine Kuby (16 Jahre), Stefan Wisnewski (16 Jahre) und Rolf Heissler (15 Jahre). Rolf-Clemens Wagner erreicht die 15-Jahre-Grenze im November.
Ob die optimistische Prognose für andere Gefangene realistisch ist, wird sich schon bald erweisen müssen. In der vergangenen Woche machten Unterstützer der wie Möller in Lübeck inhaftierten Christine Kuby auf deren sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand aufmerksam. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen könne die Gefangene, die wegen versuchten Mordes an zwei Polizisten verurteilt ist, nur noch kurze Zeit sitzen und an Krücken gehen. Deshalb sei sie haftunfähig und müsse sofort „bedingungslos“ entlassen werden. Ähnlich sieht das offenbar der Lübecker Gefängnisdirektor Schmelzer. In einem Brief an das für Kuby zuständige Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg und die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe machte Schmelzer jetzt auf die zugespitzte Lage „seiner“ Gefangenen aufmerksam.
Das OLG Hamburg erklärte vergangenen Freitag, es prüfe „derzeit“ Kubys Entlassung. Am Sonntag wies die Hamburger Anwältin der Gefangenen, Anke Brenneke-Eggers, darauf hin, daß die Entlassungsanträge bereits seit November 1992 vorliegen. Obwohl das Gericht bereits einmal eine Haftdauer von 16 Jahren für angemessen erachtet habe, stagniere das Verfahren bis heute. 16 Jahre hatte Christine Kuby bereits im Januar abgesessen. Auch Kubys Freilassung „hängt“ an der umstrittenen Frage eines psychiatrischen Gutachtens. Über eine Haftunterbrechung aus gesundheitlichen Gründen müßte im Fall Kuby die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe entscheiden. Ob dieser Weg parallel zum regulären Entlassungsverfahren beschritten werden soll, ist dort nach Informationen der taz noch nicht entschieden. Bisher liegt allerdings auch noch kein offizieller Antrag Christine Kubys auf Haftunterbrechung vor. Gerd Rosenkranz
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