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Außenseitertum als Grenzverletzung

Juden und Fremde: Ein russisches Journal zeigt, wie wenig die Vorstellungen sich verändert haben  ■ Von Irena Maryniak

Das Wort „sobernost“ soll im Russischen die vollkommen harmonische Gemeinschaft bezeichnen, deren Mitglieder durch eindeutige religiöse und kulturelle Werte so miteinander verbunden sind, daß ihre diversen individuellen Interessen gebremst und in ein größeres Ganzes überführt werden. Dieses Ideal vertraten ganz besonders die Slawophilen, puristischen Patrioten im Rußland des 19. Jahrhunderts. Sie waren davon überzeugt, daß ihr Land einen einzigartigen moralischen Status in der Welt besäße und eine historische Bestimmung daraus ableiten könne.

Auch heute hat die slawophile Idee, gefärbt mit messianischen Hoffnungen, für viele Russen eine gewisse Attraktion, wenn sie im neuen politischen Umfeld, das fragil und fragmentiert erscheint, nach Kohärenz und Identität suchen. Und wie am Anfang ist diese Idee auch heute wieder mit einer Tendenz verbunden, alles in nationalen Kategorien zu fassen: französisch heißt frivol und oberflächlich, deutsch meint schematisch und ohne Phantasie, polnisch ist kindisch und eitel, und jüdisch bedeutet nichts anderes, als schlau und auf den Tauschwert einer Sache aus zu sein. Klischees, die im Westen ihren Witz verloren haben, dienen im Osten Europas noch häufig genug als Richtschnur, mit der man sich die Welt erklärt.

Das literarische Journal Glas, eine der wenigen Publikationen, die neue russische Texte in (englischer) Übersetzung verbreiten, hat sein sechstes Heft mit dem Titel „Jews and Strangers“ kürzlich dem Thema „Außenseitertum“ gewidmet, dem Ausschluß und dem inneren Exil. Glas stellt Texte, Prosa und Lyrik von 1880 bis heute vor und zeigt damit, wie wenig sich manche Vorstellungen gewandelt haben. Es versucht sich an der Frage, die jedes zerfallene Großreich vor allem beschäftigt: Wer sind „wir“? Wo hören „wir“ auf und fangen „andere“ an: psychologisch, geographisch, politisch. Mit diesem Dilemma haben sich schon Tolstoi und Dostojewski herumgeschlagen – und bis heute ist dies die am leidenschaftlichsten diskutierte Frage sogar der Tagespolitik. Denn in Rußland, dem Land „jenseits aller Regeln und Grenzen“, sind Worte, Gefühle und Versprechen ebenso flüchtig wie der Rubel, so daß, wie Lev Anninsky in seinem Beitrag schreibt, „man die verzweifeltsten Anstrengungen unternimmt, seine Identität zu erhalten und der Überwältigung durch die Mischung aller Farben zu widerstehen ... Der Ruf der uralten Heimat ist ein letzter, lebensrettender Halt.“

Nachdem man ihnen jahrzehntelang das Recht auf Emigration verweigert hatte, reisten 1988 russische Juden schließlich in Massen nach Israel aus. Der Wunsch, wegzugehen, wurde durch den Wegfall des Schutzes verstärkt, den der sowjetische Staat ihnen gewährt und durch den er die sporadischen Einschränkungen im kulturellen, Bildungs- und Berufswesen, für die er auch verantwortlich war, gemildert hatte. In der Sowjetunion war eine jüdische Abstammung ein mit Scham besetztes Risiko; man vergaß es lieber und ignorierte es, wie Liudmilla Ulitskayas gut strukturierte und exakt beobachtete Erzählung „1953“ illustriert. Die Demütigung, rassistischen Spötteleien ausgesetzt zu sein, wurde noch durch das Bewußtsein verschärft, daß man ein Erbe zu unterdrücken versuchte, von dem man kaum eine Ahnung hatte.

Als es mit Glasnost losging, kamen Gerüchte unmittelbar bevorstehender Pogrome auf. Und schon begann die „Epoche später Konfessionen, Beschuldigungen, Selbstbezichtigungen und Wörter, Wörter, Wörter – unglaublich offen, voller Reue, schrecklich und oberflächlich“, mit der die alte Sorge um den Klassenhintergrund sich wandelte in die leidenschaftliche Suche nach nationaler Abstammung. Unter russischen Nationalisten gibt es eine Tradition, die den revolutionären Einschnitten der russischen Geschichte einen nahezu metaphysischen Charakter zuspricht und sie mit einer Verschwörung von Juden und Zionisten gleichsetzt, denen anonyme „Kosmopoliten“ Vorschub leisteten. 1960 zirkulierte beispielsweise im Samisdat ein von A. Fetisow zusammengestelltes Dokument, das die gesamte Weltgeschichte nahtlos als Kampf zwischen Ordnung und Chaos interpretierte – das „Chaos“ waren natürlich die Juden. Sie hatten 2.000 Jahre lang in Europa alles durcheinandergebracht, und die Regime von Hitler und Stalin hatten als teutonisch- slawische Intervention nur versucht, diesem Chaos ein Ende zu setzen. Fetisow und seine Anhänger sperrte man 1968 in Psychiatrien, aber sein Weltbild wurde von Leuten, die verzweifelt nach einer verständlichen Erklärung für das Versagen des sowjetischen Kommunismus suchten, wieder aufgenommen. Man muß fairerweise zugeben, daß die damals vorausgesagten Pogrome nicht stattfanden, und der Anreiz zur Auswanderung ist heute auch für Juden wahrscheinlich mehr ökonomisch als politisch bedingt.

Vielleicht tut Anninsky genau das Richtige, wenn er das gemeinsame Erbe von 200 Jahren russisch-jüdischem Zusammenleben betont und die Züge, die die „beiden Nationen im Spiegelbild“ gemeinsam auszeichnen, hervorhebt. Das mittelalterliche Muskowi nannte sich „Jerusalem“ und „das neue Israel“. Was sonst wohl soll Rußlands Beziehung zur jüdischen Tradition sein als die eines neu erwählten Volkes gegenüber einem älteren Rivalen? Man spürt auf den Seiten von Glas die Bitterkeit, die eine nicht eingelöste historische Mission ausstrahlt.

„Jews and Strangers“ ist ein Fenster, durch das wir die verlorenen Jahre der russischen und sowjetischen Juden sehen können, wobei der Band den Juden manchmal auch ein allzu exotisches, fotogenes Image verpaßt, indem die Andersheit jüdischer Kultur und Erfahrung aufleuchten darf. Als Versuch, einer Gemeinschaft die Stimme zurückzugeben, die ihr so lange verwehrt wurde, ist dies mutig und lobenswert. Indem es jedoch die „Andersheit“ derer betont, die nicht selten als eher exzentrische kulturelle Typen gesehen werden, könnte es auch, bei allem guten Willen, dem traditionellen Stereotyp und Vorurteil weitere Nahrung verschaffen. Der Wiederabdruck von Ossip Mandelstams Loblied auf das Jüdische in der bildenden Kunst („Mikhoels“, leider ohne Datierung und Kontext) und Nikolai Leskows Pamphlet von 1882 zur Verteidigung jüdischer Leistungen im kulturellen und wirtschaftlichen Leben ist angesichts der Stimmungen im heutigen Rußland eine gute Idee. Dennoch unterstreichen beide Dokumente auch, in welchem Maße jüdische Tradition bis heute als eher fernliegende Seltsamkeit gesehen wird.

Viele Texte sind wunderbar zu lesen. Da ist Wassilij Grossmanns „Die Kommissarin“ von 1934, in dem sich eine sowjetische Kommissarin während des Bürgerkriegs von der Roten Armee beurlaubt und zur Geburt ihres Kindes in einen jüdischen Haushalt begibt. Grossmann zeichnet das jüdische Milieu als Fluchtpunkt voll Wärme und Häuslichkeit, einzige menschliche Konstante in einer durcheinandergeratenen Welt, in der Erfahrungen von Kindheit und Differenz der Geschlechter neutralisiert und eingeebnet sind.

Ambivalenter und verwirrender ist Leonid Latynins Porträt einer ins Zeitlose gestellten Sequenz von Anziehung und Abstoßung von Russen und Juden, ein Auszug aus dem zweiten Band seines Romans „Schläfer zur Erntezeit“.

Daneben gibt es eine ausgezeichnete, scharf zugespitzte Vignette von Nina Sadur, in der ein Erlebnis der Rosenfelds vorgeführt wird, einer großen Familie, nervös, ausufernd, überschwemmt von „Gefühlsströmen“. Sie wollen nach Israel auswandern und „die UdSSR übers Ohr hauen“; sie kaufen Diamanten, die sie aus dem Land schmuggeln wollen. Am Ende werden sie beraubt und in ihrer eigenen Wohnung gefoltert.

Außenseiter sein heißt, sich für moralisch zweifelhaft zu halten. Es heißt, nicht über Selbstbewußtsein als Schutzschild zu verfügen und kein anderes Recht zu besitzen als das auf Überleben und die Zeugung von Kindern – vielleicht noch, zögernde Schritte in Richtung Bildung zu unternehmen, die jedoch unbelohnt bleiben. In einer Gesellschaft und Tradition, in der das Gemeinsame der Erfahrung als größter Wert gilt, ist Außenseitertum die schwerste Grenzverletzung überhaupt. Irena Maryniak

Auf den heutigen Index-Seiten ist von einer Zensur die Rede, die man Zensur eigentlich nicht zu nennen wagt: Mord, Vergewaltigung und Krieg. Doch Gewalt und die Androhung von Gewalt läßt Menschen in Indien, Bosnien, Rußland und Algerien gleichermaßen schweigen über das, was ihnen oder ihren NachbarInnen angetan oder angedroht wird.

Das „Tagebuch aus Sarajevo" von Radha Kumar entwickelt ohne Schuldzuweisungen nach einer Seite und mit vorsichtigen Beobachtungen das Bild einer Stadt, die ihre Identität schon viel zu lange aus dem puren Überleben beziehen muß und im Druck der Verhältnisse hart – und muslimisch wie nie vorher – geworden ist.

Caroline Moorhead wirft einen Blick auf Indien, der großen asiatischen Demokratie, wo Recht und Gesetz nicht nur im Bürgerkrieg bedroht, sondern in Kashmir und dem Punjab von Staats wegen schon längst ausgehöhlt und zusammengebrochen sind. Nicht nur hier sondern auch in Algerien haben westliche Interpretationen, sprich Interessen, der eigenen Öffentlichkeit den Ernst der Lage aber auch Problemlösungsmöglichkeiten lange verschwiegen.

Irena Maryniak stellt das literarische Journal Glas vor, das neue russische Texte in englischer Sprache druckt und seine jüngste Ausgabe mit dem Titel „Jews and Strangers“ dem Thema „Außenseitertum“ gewidmet hat. Es zeigt, wie wenig sich die Vorstellungen davon in Rußland verändert haben.

Uta Ruge, London

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