■ Die Vorwürfe gegen Gregor Gysi wegen Stasi-Mitarbeit
: Vor der Wende las es sich anders

Gregor Gysi hat sich festgelegt: Alle Eide seines Lebens könne er darauf schwören, daß er sich niemals in einer konspirativen Wohnung mit Mitarbeitern der Staatssicherheit getroffen habe. Eidesstattliche Erklärungen in der Sache Gysi haben auch die MfS-Offiziere Lohr und Reuter abgegeben. Lohr als der zuständige Stasi-Mitarbeiter, Reuter als dessen Vorgesetzter. Beide zeichnen verantwortlich für die papierenen Stasi-Hinterlassenschaften, die (unter anderem) als Quellenangabe „Bericht über einen Treff mit GMS ,Notar‘ am 7.4. 1981 in der IMK ,Ellen‘“ vermerken. „IMK“, das ist unumstritten, diente der Stasi als Kürzel für eine Wohnung, in der konspirative Treffen stattfanden. Die beiden Offiziere nun können bezeugen, niemals mit Gregor Gysi in einem konspirativen Ort zusammengekommen zu sein.

Und da ist er wieder, der hinlänglich bekannte Widerspruch, der sich zwischen den Aufzeichnungen der Stasi vor der Wende und den Aussagen der Stasi-Offiziere nach der Wende auftut. Wem trauen? Den Unterlagen eines real existierenden Repressionsapparates, der penibel geführte Akten als Grundlage seiner Tätigkeit nutzte? Oder den Aussagen der Offiziere, die heute verkünden, sie hätten entgegen ihren Dienstvorschriften den Rechtsanwalt Gysi auf dem Papier als Quelle „IM Notar“ geführt? Anhand der Akten läßt sich der Widerspruch nicht auflösen.

Bestens bekannt ist ein solcher Widerspruch aus der Debatte um den Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Anders als Gysi hat sich Stolpe aber nicht so eindeutig festgelegt. Er hat Treffen mit Stasi-Mitarbeitern, die Entgegennahme von Geschenken oder die Berichterstattung über seine Auslandsreisen eingeräumt, zum Wohle seiner damaligen Arbeitgeberin, der Kirche, natürlich. Konsequent ausgeschlossen hat Stolpe nur eines: die Auszeichnung mit einer Verdienstmedaille der DDR aus den Händen der Stasi. Darüber wäre er schließlich fast noch gestolpert, denn die Stasi-Akten drängten genau diese Version geradezu auf. Stolpe rettete, daß sich zwei MfS-Offiziere widersprachen. Der eine will die Auszeichnung selbt ausgehändigt haben, der andere, sein Vorgesetzter, dementierte heftig.

Stolpe kam in der Auseinandersetzung um den „IM Sekretär“ zugute, daß sich die SPD ohne Wenn und Aber hinter ihn stellte. Mochten sich die Indizien auch häufen – Stolpe durfte als eine der wenigen populären Ost-Symbolfiguren nicht demontiert werden. Auf einen solchen Rückhalt kann Gysi kaum hoffen. Selbst in der PDS ist strittig, wie weit die Solidarisierung mit ihm, dem Angeschlagenen, reicht. Die Auseinandersetzung um die am 16. Oktober gewählte und dann wegen ihrer verschwiegenen Stasi-Zusammenarbeit doch noch zum Mandatsverzicht gedrängte Kerstin Kaiser-Nicht könnte auf den „Fall Gysi“ übergreifen. So perfekt ist die Flasche „Vergangenheitsbewältigung unter Postkommunisten“ doch nicht verkorkt. Wolfgang Gast