Ich bin wütend

■ betr.: „Wir sind alle ganz happy“, taz vom 17.10.94

[...] Daß der Wechsel nicht erfolgte, ist ein Skandal. Nach vier Jahren Herrschaft eines Politkartells, daß sich weder als christlich (Sozialabbau, Internationalisierung des Kontingents potentieller Toter...) noch als demokratisch (Beschleunigungsgesetz, Treuhand-Imperialismus...), noch als sozial (Verhinderung aller Wahlrechtsinitiativen für ausländische MitbewohnerInnen, keine Bafög- Angleichung...), noch als liberal (Asylrechtsabbau, Paragraph 218...) bewies, war der Wechsel fällig. Allein das Verbrechen der faktischen Enteignung der östlichen Länder zugunsten privaten, vulgo: westlichen Kapitals und die nicht erfolgten ökologischen Weichenstellungen haben es notwendig gemacht, daß mit der Faust auf den Tisch geschlagen wird. Noch zur Zeit der Wahl wollte die absolute Mehrheit der Bevölkerung einen Regierungswechsel! Nur mit Propaganda der extremistischen Mitte [...] kann davon abgelenkt werden, daß Deutschland am Sonntag zumindest einen halben Schritt in die richtige Richtung gegangen ist.

Daß die exliberalen Politpinscher der FDP wieder in den Bundestag dürfen, kann ich mir lediglich verfahrenstechnisch, nicht aber politisch erklären. [...] Auf regionaler und kommunaler Ebene jedenfalls bekommt sie kontinuierlich die Quittung für ihre Politik, die keine ist: Vom Liberalismus eines Ludwig Quidde in den Anfängen der liberalen Parteien der Weimarer Republik oder eines Gerhardt Baum in der heutigen Zeit hat sie sich spätestens Ende der siebziger Jahre verabschiedet. Ein konsequentes Eintreten für klassische Themen des politischen Liberalismus – Trennung von Kirche und Staat, Erhalt und Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten – läßt sie nicht nur vermissen, nein: Sie trägt Grundrechtsabbau mit, siehe 26. Juni 1993. [...]

Die Grünen – dieses Herbstmärchen bundesrepublikanischer Parteigeschichte. Nun ist sowohl der West- als auch der Ostteil dieser, wie Ludger Volmer sich stets beeilt zu intonieren, ökologischen, feministischen und radikaldemokratischen Partei wieder im Bundestag. Mit einem Ergebnis allerdings, das mir vor drei Monaten wie ein schlechter Traum vorgekommen wäre. Das grüne Potential Deutschlands liegt weit im zweistelligen Bereich – schon das linksliberale Potential wurde nicht aufgefangen. Trotz deutlicher Mahnrufe zum Beispiel der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung hat es diese Partei versäumt, sich als die Partei des heutigen Liberalismus darzustellen. [...]

Zudem sollten Volmer und Fischer den Mund nur nicht so voll nehmen wie der Bundestag jetzt zukünftig aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse sein wird: Der Kanzler wird eher lächeln und mit Volmer Ringelpitz mit Anfassen spielen als sich jagen lassen. Womit denn? Mit ökorevolutionären Gesetzentwürfen, die dann auch ein paar Stimmen der SPD erhalten (solange sie noch in der Opposition ist)? Und geknackt wird wohl eher die Illusion, vor 1998 Rot-Grün überhaupt anzudenken.

Ich ärgere mich. Auch darüber, daß sich die Regel bewahrheitet, nach der ein Kanzler noch nie durch Wahl gewechselt worden ist in Deutschland. [...]

Und die Länderparlamente? Daß Lafontaine trotz rigoroser und unverschämter Pressegesetzgebung immer noch die absolute Mehrheit hält, läßt mich überlegen, ob es sozialdemokratische Gleichschaltung im Saarland schon vor der Wahl gegeben hat. Und in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, diesen Sackgassen ostdeutscher Regierungsbildung, in denen die BürgerrechtlerInnen und die Grünen abserviert wurden wie 'ne Halbe und sich einmal mehr die Regel bestätigt, nach der die Revolution ihre Kinder frißt? – In einem Punkt hat die Sozialdemokratie jedenfalls den Fehler ihrer WestgenossInnen übernommen: Sie fühlt sich viel zu schnell verantwortlich, wenn es um die Regierungsbildung geht. Der – strategische, nicht politische – Fehler von Magdeburg wird wiederholt: Anstatt sich zurückzulehnen und charmant lächelnd zuzugeben, daß die CDU die stärkste Fraktion im Landtag stellt und doch eindeutig das Recht und die Pflicht hat, den Ministerpräsidenten zu stellen, gleichzeitig aber klarzustellen, daß sie selbstverständlich einen christdemokratischen Landschaftszermalmer nicht mitwählen würde – so daß die CDU zwar nach dem dritten Wahlgang den Ministerpräsidenten stellte, aber in der Legislatur kein Bein auf den Boden bekäme ohne sozialdemokratische Gesetzentwürfe, oder aber, siehe da, eine Tolerierung durch die PDS – anstatt also in angemessenem Macht- und Politkalkül die CDU in das Messer ihrer eigenen Magdeburg-Demagogie rennen zu lassen, steht die SPD preußisch stramm und verausgabt sich womöglich als Juniorpartner einer Großen Koalition. Was die Stimmen der PDS bei der nächsten Wahl gewißlich und zu Recht vermehren wird.

Ich bin wütend. Und freuen, freuen werde ich mich auf die Antrittsrede Stefan Heyms als Alterspräsident des deutschen Bundestages. Sebastian Lovens, Münster