: Rangehn beim Volkstanz
■ Lesben und Schwule übten beim „Herbsterwachen“ die Anschleichtechniken der Begegnung
Geigen und Zithern winden sich aus dem Ghettobluster in das abblätternde Halbdunkel der Turnhalle. Kein romantischer Ort, diese schäbig-altersschwache Sportstätte der Gesamtschule Mitte. Dessen ungeachtet reichen sich drei Paare die Hände. Auf geht's zum dänischen Familientanz. Sechs Männer umkreisen sich, halten sich taktvoll bei Augen und Händen. Das sieht man selten. Wenn Männer sich umarmen, riecht das eher nach Angriff als nach Begegnung.
Nicht so, wenn die Männer schwul sind. Doch daß Begegnung eine anspruchvolle Kürübung ist, wissen auch die TeilnehmerInnen des „Herbsterwachen 94“, das im Untertitel ein „Treffen junger europäischer Lesben und Schwuler“ versprach. Anders als in den vergangenen zwei Jahren reisten nicht Hunderte aus mehreren Ländern an. In Bremen trafen ferienbedingt lediglich 24 Männer und zwei Frauen aus Deutschland ein.
Was zunächst eine Enttäuschung war, definieren rückblickend alle als Vorteil: „Bei den anderen Treffen hat man sich doch nur bei den Seminaren gesehen. Hier waren die Kontakte viel intensiver,“ ist man sich einig. „Ich war noch nie mit so vielen Schwulen zusammen“, bestätigt auch eine junge Lesbe. „Die Woche hat mir ein gutes Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben, von dem ich sicher in Zukunft viel behalte.“ Sonja aus Bremerhaven kann ohnehin nicht verstehen, warum so viele Lesben mit Schwulen nichts zu tun haben wollen und vermutet dahinter ein Altersphänomen. „Die Jüngeren gehen eher gemischte Wege“, was angesichts zunehmender politischer Repressionen auch notwendig sei.
Abgesehen vom Workshop „Safer Sex“ fanden alle Veranstaltungen gemeinsam statt. Die durchschnittlich 20jährigen diskutierten Coming Out Probleme und versuchten, sich bei einem Gespräch mit Bremer Eltern in deren Rolle hineinzudenken. „Ich hab meine Mutter mitgeschleift,“ lacht Sonja. „Die war nachher ganz stolz, weil ich so selbstverständlich lesbisch lebe, und sie damit so gut umgehen kann. Sie will jetzt in Bremerhaven eine Elterngruppe aufbauen.“
Langzeitwirkung schreiben die TeilnehmerInnen auch dem Seminar „Kontakt aufnehmen“ zu. Alle kämpfen gegen die Befangenheit, die so verräterisch aus dem Auge zu wummern droht, welches man in der Kneipe aufs zufällige Gegenüber geworfen hat. Rangehen, aber wie? Im Seminar wurden lebenswichtige Anschleichtechniken geübt und Partnerschaftsanzeigen formuliert. Weniger, um welche aufgeben zu lernen, sondern um den eigenen Hemmungen auf die Spur zu kommen. Rollenspiele erlaubten tiefe Einblicke ins Ich, das vor dem Du kapituliert: „Ich habe Kontaktschwierigkeiten, Angst vor Ablehnung“, gesteht ein junger Schwuler, dem das Seminar Anregungen gegeben hat, „nicht gerade weltbewegend, aber steter Tropfen höhlt den Stein.“
Neben den aufwendigen Innenansichten wurde intensiver Ausgelassenheit gefrönt. „Wir haben furchtbar viel gekichert“, feixen Männer wie Frauen und werfen sich vieldeutig-rotgeränderte Blicke zu. Die Herbsterwachenden lassen keinen Zweifel daran, daß sie neben dem „gestiegenen Selbstbewußtsein“ und den neuen Adressen ein großes Schlafbedürfnis mit nach Hause nehmen. Beinahe jede Nacht waren sie unterwegs, um die kulturellen Leckerbissen zu goutieren, die die OrganisatorInnen mit Unterstützung des Jungen Theaters für sie vorbereiteten: Eine Cocktailparty, Tim Fischer, Rainer Bielfeldt, die heutige Gala, am Samstag Cora Frost und am Sonntag zum Abschluß Oliver Lesky und Jakob Vinjé.
„Es war immer etwas los und nicht einen Augenblick langweilig,“ zollt man man jenen fünf Menschen Lob, die schon seit März das „Herbsterwachen“ weckt. Dazu gehört Sonja, die Hauptarbeit aber wurde von Sappho & Apoll, dem Bremer Kommunikationsverein für junge Schwule und Lesben geleistet. Ob sie mal wieder so ein Treffen organisieren? „Vielleicht, es hat viel Spaß gemacht. Aber jetzt brauchen wir erstmal Ruhe.“
dah
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