In der vergessenen Stadt unter der Stadt

Bunkeranlagen, Verkehrsschächte, Verbindungstunnel, Brauereikeller: Die unterirdischen Anlagen in Berlin sind vielerorts dem Vergessen anheimgefallen / Zwei Tunnelforscher wollen den Untergrund wieder ins Gedächtnis rufen  ■ Von Uwe Rada

Berlin, Pariser Platz. Hier befand sich vor dem Krieg das Hotel Adlon. Hier soll es wieder entstehen. Wenige Meter weiter, vor dem Brandenburger Tor, sprudelt seit kurzem ein Brunnen. Unter ihm befindet sich freilich keine Spreequelle, sondern eine weitverzweigte Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg. Unter dem Adlon suchten damals die oberen zehntausend Schutz vor den alliierten Bombenangriffen. Mit seiner zehn Meter dicken Stahlbetondecke galt der „Diplomatenbunker“ als der sicherste der ganzen Stadt. „Es war kein Zufall“, schildert Hedda Adlon, die Frau des einstigen Hoteliers, „wenn Ribbentrop seinen Gast zum Adlon führte. Unter der Rasenfläche des Pariser Platzes, vor der Fassade des Adlon, war von der Organisation Todt ein mächtiger Luftschutzbunker zum Schutz der ausländischen Diplomaten, der Beamten des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße sowie der Gäste des Hotels und der Angestellten gebaut worden.“

Der „Diplomatenbunker“, der neben dem Hotel Adlon Zugänge auch noch vom Brandenburger Tor und von der heutigen Akademie der Künste hatte, war nach dem Krieg der Vergessenheit anheimgefallen. Erst im Sommer 1992 wurde er wieder entdeckt – bei Erdaushubarbeiten für eben jenen Brunnen auf dem Pariser Platz. Viel Zeit, die Anlage einer eingängigen Betrachtung zu unterziehen, blieb nicht, klagt der Bunker- und Tunnelexperte Thomas Wenzel. Die Bauverwaltung hat dem Brunnenbau Vorrang gegeben. Statt in der deutschen Vergangenheit herumzustochern, mußte die Zukunft bewältigt werden. Pünktlich zu den Einheitsfeiern am 3. Oktober 1992 sollte der Brunnen auf dem Pariser Platz fertiggestellt sein.

Der Ostberliner Thomas Wenzel ist neben seinem Westberliner Kompagnon Dietmar Arnold die erste Adresse, wenn es gilt, den Berliner Untergrund zu erforschen. Die Auftraggeber ihrer „Arbeitsgemeinschaft – Unter den Straßen Berlins“, sind unter anderem Bezirksämter, Senatsverwaltungen und private Bauherren, die sich einen Überblick verschaffen wollen, was alles womöglich unter ihrem Grund und Boden liegt: Bunkeranlagen, Verkehrsschächte, Verbindungstunnel. Oder abgrundtiefe Keller. Über 20 Meter tief ist etwa der Keller unter einer alten Schultheißbrauerei auf dem Prenzlauer Berg. Wegen des hohen Grundwasserstandes wurden in Berlin sämtliche Brauereien auf „Bergen“ errichtet. Nur dort konnte man die für die Kühlung der Bierfässer notwendigen Tiefkeller graben.

Unterirdischer Städtebau

Fast 40 Prozent der Berliner Bauwerte, meint der gelernte Stadtplaner Arnold, befänden sich unter der Erde. „Unterirdischer Städtebau“ heißt es im Fachjargon. Zwar sei das Berliner Unterleben wegen des sandigen Bodens und hohen Grundwasserstandes nicht so ausgeprägt wie in den auf Kalksandstein gebauten Metropolen Paris oder Moskau. Auf der anderen Seite aber habe der Zweite Weltkrieg dazu beigetragen, daß vor allem das Luftschutzsystem in Berlin überaus verzweigt sei. Der Grund: Das Bunkerbauprogramm der Reichshauptstadt aus dem Jahre 1941, in dessen Folge nicht nur Verbindungsschächte der vorhandenen Bunkeranlagen zu den Bahnschächten gegraben wurden, sondern auch in den Kellern der Mietshäuser wöchentlich bis zu 20.000 Brandwände durchbrochen wurden.

In der DDR wurden die unterirdischen Anlagen – ohnehin vielerorts im „Grenzgebiet“ – gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Im Westen wurden sie vergessen. Bis die Mauer fiel. Als bei Erdarbeiten für das Rockoperspektakel „The Wall“ von Pink Floyd ein Bunkereingang freigelegt wurde, setzte die bislang heftigste Debatte um das unterirdische Erbe des Nationalsozialismus ein. Insbesondere die Wandmalereien, die im „Fahrerbunker“ der SS-Leibstandarte Adolf Hitler unter dem Gelände der ehemaligen Ministergärten auf dem späteren Todesstreifen der Berliner Mauer gefunden wurden, erhitzten die Gemüter. Sollte der Bunker öffentlich zugänglich gemacht werden, um den nationalsozialistischen Führerkult in Anbetracht der banalen Malereien zu entmythologisieren? Oder würde man damit nicht eher einen Wallfahrtsort für alte und junge Nazis schaffen?

Der Konflikt ist bis heute nicht entschieden. Während der Senat und die Ländervertretungen „Leichen im Keller“ vermeiden wollen, setzt sich das Archäologische Landesamt dafür ein, die Bunkeranlagen in die Fundamente eventueller Neubauten wie Ländervertretungen und Ministerien zu integrieren und öffentlich zugänglich zu machen. Ein Anliegen, das auch die „Untergrundarchäologen“ Dietmar Arnold und Thomas Wenzel unterstützen. Sie plädieren dafür, den „Fahrerbunker“ in die nahe gelegene Ausstellung „Topographie des Terrors“ zu integrieren.

Der Streit um den „Fahrerbunker“ könnte womöglich nur ein Vorgeplänkel sein auf das, was im Bereich der Wilhelmstraße und der „Neuen Reichskanzlei“ an der Voßstraße noch alles zum Vorschein kommen könnte. Im ehemaligen Regierungsviertel der Reichshauptstadt findet sich Bunker neben Bunker, viele davon sind miteinander verbunden und verfügten einst über unterirdische Tunnelverbindungen zu den Schächten der Berliner Verkehrsbetriebe. Für die Tunnelexperten Anlaß genug, Nachforschungen darüber anzustrengen, ob nicht gerade dieses geheime Verbindungssystem der Grund für die SS war, am 2. Mai 1945 den Nord-Süd- Tunnel der S-Bahn zu sprengen, damit die Anlagen von den Russen nicht entdeckt werden konnten. Indizien dafür habe man, sagt Arnold, glaubwürdige Augenzeugenberichte oder Beweise hingegen noch nicht. Bislang gilt der Grund für die Sprengung am Tag der Befreiung Berlins, bei der zahlreiche Menschen ums Leben kamen, als ungeklärt.

Weitgehend erforscht, dennoch den meisten Berlinern unbekannt, sind die „blinden“, das heißt nie in Betrieb genommenen oder stillgelegten Tunnel oder Bahnhöfe der Berlin U- und S-Bahn. Wer ahnt heute schon, wenn er in der U8 vor und hinter dem Moritzplatz hin- und hergeschüttelt wird, daß die Fahrt durch den nahe gelegenen Bahnhof Dresdner Straße am Oranienplatz weitaus gemächlicher vonstatten gegangen wäre. Hätte es da nicht das Kaufhaus Wertheim gegeben. Kurz bevor die eigentliche Streckenführung über die Jannowitzbrücke, die heutige Heinrich- Heine-Straße und die Dresdner Straße über den Oranienplatz zum Kottbusser Tor fertiggestellt war, intervenierte das Kaufhaus am Moritzplatz und verwies auf die Konkurrenz am Hermannplatz, der man einen direkten U-Bahn- Anschluß zugestanden hatte. Mit Erfolg. Die Streckenführung wurde geändert. Der Tunnel unter der Dresdner Straße mit dem Bahnhof am Oranienplatz blieb ein Torso.

Zwar verfügt Berlin nicht über annähernd so viele Bahnruinen wie New York, wo in unterirdischen Blindstrecken Tausende von Obdachlosen Zuflucht gefunden haben. Dennoch gibt es auch an der Spree mehrere Bauvorhaben, die nie beendet wurden und heute weitgehend vergessen unter der Erde schlummern. So befindet sich nach Augenzeugenberichten ein U-Bahn-Schacht an der Ecke Greifswalder/Dimitroffstraße. Er gehört zur geplanten U-Bahn-Linie nach Weißensee, von der am Alexanderplatz auch schon eine Stichstrecke entlang der heutigen Hans-Beimler-Straße gegraben wurde.

„Blinde“ U-Bahnhöfe

Ebensfalls weitgehend unbekannt ist der U-Bahnhof Neue Friedrichstraße, ehemals geplant als Trassenführung für die U-Bahn vom Alexanderplatz nach Kreuzberg. Mehr als eine Verbindungsstrecke der ehemaligen Linien D und E (Nord-Süd-Strecke und Tierpark- Linie) wurde allerdings nicht fertiggestellt, da man sich kurz darauf entschlossen hatte, wegen des nahen Bahnhofs Klosterstraße die Linie über die Jannowitzbrücke zu führen, die überdies einen S-Bahn- Anschluß bot. Im Zweiten Weltkrieg wurde dann ein Bunker in den Bahnhofsrohbau eingebaut.

Einen genauen Überblick über das kollektive Unterbewußtsein der Stadt gibt es heute nicht. Zwar finden sich auf etwa 90 Prozent der U-Bahn-Anlagen Hinweise in verschiedensten Akten und Archiven, darunter auch im „Sonderarchiv“ in Moskau, eine zentrale Kartei allerdings gibt es nicht. Für die Untergrundforscher Wenzel und Arnold eine Herausforderung. Im kommenden Frühjahr wird beim Ch.-Links-Verlag ihr Buch „Unter den Straßen Berlins“ erscheinen. Damit soll nicht nur Licht ins Dunkel unter Berlin gebracht werden, sondern auch ein Beitrag dafür geliefert werden, die unterirdischen Zeugnisse der Vergangenheit in die werdende Stadt zu integrieren und – wenn möglich – die „toten Räume unter der Erde mit Leben zu füllen“.

Theaterperformances wie im Lindentunnel (den Straßenbahntunnel Unter den Linden hatte der Kaiser bauen lassen, weil er nicht wollte, daß die Tram über seine Linden fuhr), sind ein erster Schritt, findet Dietmar Arnold. Weitere Ideen, etwa die Verwendung von Bunkern als Musik- Übungsräume, gibt es zuhauf. In einem Fall freilich scheint eine Integration der U-Anlagen geradezu geboten. Der Alexanderbunker unter dem Alexanderplatz, eine riesige, dreieckige Bunkeranlage, an der vorbei der Straßentunnel unter der Grunerstraße geführt werden mußte, läßt sich im Zuge der Hochhausbebauung nicht so einfach abreißen, meint Arnold. Der Grund: Sowohl die Unterführung unter dem Alex als auch der Bunker sind in einer riesigen Betonwanne gegen das Grundwasser errichtet. Und die kann, ähnlich wie beim Palast der Republik, ohne die Gefahr eines Grundwassereinbruchs nicht ohne weiteres entfernt werden.

Für das Buchprojekt bitten Arnold und Wenzel weitere Augenzeugen, die an der Berliner Bunkerplanung beteiligt waren oder sich im Krieg längere Zeit in Bunkern aufgehalten haben, sich unter der Telefonnummer 975 95 11 zu melden.