: Erzählungen toter Männer
Basislager schon im Kino-Foyer: Die hohe Tatra und ihr Bergfilm-Festival im slowakischen Poprad ■ Von Dietmar Bartz
Wer im Spätherbst auf ein internationales Bergfilm-Festival fährt und aus dem Westen kommt, reist im Goretex-Anorak an und treibt sich in poppiger Fleece-Jacke herum. Ort der Veranstaltung ist Poprad. Das ist zwar ein recht heruntergekommenes Industriestädtchen im Osten der Slowakei, aber es liegt auch am Fuße der Hohen Tatra und hat sich prompt für die Austragung der Olympischen Winterspiele des Jahres 2002 beworben.
Zunächst aber trägt Poprad alljährlich und nun zum zweiten Mal sein Bergfilm-Festival aus. Die Portion Glanz und Glamour, die auf den Leitveranstaltungen im österreichischen Graz oder im kanadischen Banff durchaus üblich ist, fehlt in Poprad ganz. Dafür verstehen die Besucher um so mehr von den Bergen. Die gebräunten jungen Leute, die mit Rucksäcken und Iso-Matten aus dem ganzen Land herbeigetrampt sind, verwandeln die Garderobe des Kinos Gerlach in ein großes Basislager. Achtungsvoll machen sie nur den verwitterten Männern Platz, die aus der Tatra herabgekommen sind und ein verblüffendes Talent besitzen, sich ihre schimmernden Bergwachtabzeichen so an die Brust zu heften, daß sie auch im Gedränge sofort erkannt werden.
Auf Bergfilmfestivals stehen nicht die Filme, sondern die Berge in der Zuschauergunst an erster Stelle. Das erspart ihnen, den Zuschauern, Ärger. Denn wie jedes Bergfilm-Festival hat auch Poprad ein Qualitätsproblem. Zwar hat der Expeditionsfilm seine langweiligste Phase, die Abteilung: „Alle Gipfel dieser Erde“ und „Helden im Eis“ (nach Unfällen: „Helden in Eis“) überstanden. Aber: Nach den Objekten des Filmes sorgen nun die Filmer selbst für Ungemach.
Berg-Trash mit Reality-Effekten
Und zwar gleichermaßen die Dilettanten wie die Profis. Die Dilettanten, weil Videokameras so billig und leicht geworden sind, daß jede Expedition sie auf jeden Gipfel mitschleppen kann. Bedauerlicherweise scheint zudem jeder videofilmende Alpinist einen Produzenten zu kennen. Und da es mehrere Bergfilm-Festivals gibt und nicht sehr viele interessante Filme entstehen, erhalten unweigerlich auch schlechte Produktionen die unverdiente Chance, vor Publikum gespielt zu werden. Kommt dann in den Bergen auch noch ein Mitglied der Expedition ums Leben, entsteht aus überbelichtetem Material ein überflüssiger Dokumentarfilm, der eben diesem Verstorbenen gewidmet ist (in Poprad etwa „Hautes Altitudes“ des Franzosen Guy Chaumereil über eine Annapurna-Expedition von 1992 mit tragischem Ausgang).
Auch Reality-TV hat in das Genre Einzug gehalten. Der vermutlich furchtbarste Abstieg der Bergsteigergeschichte liegt jetzt verfilmt vor: Nach einem Absturz brauchte der Brite Doug Scott acht Tage, um mit seinen beiden gebrochenen Knöcheln vom Ogre im Karakorum abzusteigen. Leo Dickinson hat daraus einen 24minüter gemacht, in dem die Tortur nicht von Schauspielern, sondern von Amateurbergsteigern nachgestellt wird. Das Billigprodukt ist für eine britische TV-Reihe gedacht, die ganz im Ernst den Titel „Erzählungen toter Männer“ trägt.
Sorgen schon kleine Budgets oder geringe Filmkenntnisse für Probleme, wachsen die Schwierigkeiten ins Exponentielle, wenn genügend Geld und Know-how vorhanden ist. Um den Ansturm auf den Mount Everest zu regulieren, verlangt die nepalesische Regierung inzwischen eine Gipfelprämie von 10.000 Dollar – und zwar pro Kopf. Auch wenn dies ein Extrem ist: Kostspielige Expeditionen brauchen heutzutage große Sponsoren. Und die wollen dafür einen Film sehen.
Aufdringliches Product Placement ist dann zwar ärgerlich, aber drittrangig. Wichtiger ist schon, daß die kommerziellen Expeditionen immer aufgeblähter werden, weil den Bergsteigern ein ganzer Troß von Filmprofis folgt (allerneuester Trend: in einer kurzen Sequenz zu zeigen, daß auch deren Müll mit zurückgenommen wird). Hauptproblem ist aber, daß die Bergsteiger zur Staffage werden und die Fachleute ihre Arbeit so gut beherrschen, daß mithilfe technischer Tricks auch simple Touren zu Augenschmaus und Abenteuer geraten. „Einige der schwierigsten Szenen sind möglicherweise nur einen Meter über Grund gedreht. Es gibt da eine Menge Zaubertricks“, sinnierte in Poprad der Ehrengast Sir Edmund Hillary, der 1953 mit
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dem Sherpa Tensing als erster den Mount Everest bestiegen hatte. Hillary charmant: „Die Filmemacher sind sehr clever darin, Dramatik zu produzieren.“
In Poprad fiel ausgerechnet eine slowakisch-österreichische Koproduktion von 1993 über die Hohe Tatra auf, die arg auf Effekte setzte: Sie komponierte zu einem herabstürzenden Adler einige flüchtende Gemsen, später erhielten hungrige Wölfe die passenden Hirschkühe – ohne daß die Tiere dann tatsächlich aneinandergerieten. Fast harmlos blieb da der Zeitraffer, der einen Wald bewegte, weil die Dramaturgie nach einem Sturm verlangte. Das alles schnell geschnitten, Punkrock und eine rasante Kamerafahrt ein Bachbett hinunter – MTV kann auch Mountain Television heißen.
An ihren Zwecken sollt ihr sie erkennen. Die breiteste Schicht der Dokumentaristen bilden Pädagogen, zumeist Amerikaner. In ihren Filmen begründen und erklären sie unentwegt, Ergebnis der riesigen Nachfrage nach leichtverdaulichen Beiträgen für die vormittäglichen TV-Programme. In Poprad nervte besonders die US- Fassung einer venezolanischen Produktion über den noch kaum erforschten Sima-Aonda-Durchbruch, weil die Höhenangaben ständig in Hochhäusern ausgedrückt wurden.
Neue Bewohner der Berge
Dem Gegenteil frönen viele, vor allem neuere, französische Videos: Spaß statt Belehrung, extreme Sportlichkeit, Faszination und bunte Farben. Die Gedankenlosigkeit kulminierte in Jean Michael Destangs technikbegeistertem Stück über Helikopter als „neue Bewohner der Berge“. Heli-Skiing und anderen Unfug, den die Tourismus-Industrie mit Hubschraubern in den Alpen anstellt, erwähnt Destang nicht einmal. Die Berge als Objekt – die Familie der Extremisten hat in den letzten Jahren noch ordentlich Zulauf aus den vormals realsozialistischen Ländern bekommen. Die standen schon traditionell nicht in dem Ruf, daß ihnen der Naturschutz über alles gehe, und dieses Thema bleibt weiter den westlichen Kamerateams auf Katastrophensuche vorbehalten. In diesem Sinne bleiben die Ostfilme „französisch“. Die Zuschauer in Poprad erfreuten sich denn auch an den beiden Tschechen, die im Himalaya einen Höhenrekord im motorisierten Gleitflug aufstellten (7.000 Meter), oder an einem Russen, der mit einem kompletten Huskie-Gespann den Peak Communism (7.495 Meter) im Pamir erreichte. Mehrere Tiere kamen allerdings beim Abstieg durch eine Lawine ums Leben; der Film (wie gemein!) ist ihnen dennoch nicht gewidmet.
Die dritte Gruppe der Filmschaffenden stammt vor allem aus dem deutschsprachigen Raum. Sie sieht in den Bergen nur noch Menschen bei ihrem zerstörerischen Tun. Solche Produktionen waren aber in Poprad kaum vertreten – schließlich kandidiert die Stadt für die Olympischen Winterspiele und erhofft sich nun Prosperität und weltweite Bekanntheit, obwohl Hohe und Niedere Tatra unter Naturschutz stehen. Betretene Gesichter unter den örtlichen Honoratioren, als von Edmund Hillary Wohlwollen für dieses Vorhaben erfragt wurde. Die Bergsteigerlegende antwortete nur kurz, daß er noch nie auf Winterspielen gewesen sei; und wenn die Umwelt zerstört werde, seien die Spiele kein Erfolg gewesen.
Aber jenseits der drei Typen – Pädagogen, Anything-goes-Extremisten, Naturschützer – arbeiten immer noch große Dokumentaristen, die sich Leichtigkeit bewahren, ohne flach oder moralisch zu werden. Poprad bot in diesem Jahr gleich drei solcher Arbeiten. Matt Dickinsons „An Everest to climb“ von 1993 begleitete eine Gruppe von körperlich und geistig Behinderten aus Großbritannien, die den 5.803 Meter hohen Pokalde im Himalaya bestiegen – eine vehemente, sehr herzliche Aufforderung an Behinderte, nicht zu Hause zu bleiben.
Patrick Morris, ebenfalls ein Brite, hat einen handwerklich perfekten Naturfilm über die „Inseln in Afrikas Himmel“ gedreht: ein einstündiges Porträt der ostafrikanischen Eis- und Sturmregionen, die von den bekanntlich sonnendurchglühten Steppen der Äquatorregion nur drei bis sechs Kilometer entfernt sind – aber nach oben. Elefanten ziehen in langer Reihe durch die Wolken, aus denen plötzlich die „Inseln“ mit ihren ganz eigenen Pflanzen und Tieren herausragen. Hier friert der Tropenwald über Nacht – jeden Abend wächst Eis aus dem Boden, um morgens wieder abzuschmelzen. Nicht die Menschen sind der Tiere größter Feind, sondern immer noch die Tiere selbst. Auf das sorgfältigste (natürlich für BBC-TV) abgefilmt, versteht man Morris' konservative Botschaft sehr wohl.
Und dann war da noch der „BaseClimb“ des Australiers Glenn Singleman, der verrückteste Film des Festivals, gefeiert und prämiert, der einzige in Poprad, der während der Vorstellung Szenenapplaus bekam. Base-Jumper sind Leute, die wie Bungee-Jumper von Brücken oder Gebäuden springen, aber ohne Seil, nur mit Gleitschirm. Den öffnen sie aber erst nach dem Absprung. Vom 6.200 Meter hohen Turm des Trango im pakistanischen Karakorum springen zwei rund 2.000 Meter in die Tiefe. Der eine von ihnen, Singleman, ist für den Weg nach oben verantwortlich, Feteris für den nach unten – der Film zeigt ungekünstelt und unpädagogisch, wovor jeder Angst hat und wie sie voneinander lernen. Damit bringt Singleman das atemberaubende Projekt erst richtig an die Zuschauer heran; der Sprung war nämlich gleich zu Anfang des Filmes schon in voller Länge gezeigt worden. Aber erst jetzt herrscht Totenstille im Kino. Die beiden, kleine Kameras auf den Helmen und an den Füßen, springen ab. Sie fallen und beschleunigen, immer hart an der Felswand entlang, volle zehn Sekunden lang. Dann erst, endlich, öffnen sie ihre Schirme, und das Publikum jubelt vor Erleichterung.
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