: Marktsystem ohne Attribute
Nach fünf Jahren gerät die samtene Revolution ins Abseits / Gestritten wird in Tschechien um die zivile Gesellschaft und die Rolle der Parteien ■ Von Sabine Herre
Prag, Frühling 1990. Ein halbes Jahr nach der samtenen Revolution finden in der Tschechoslowakei die ersten freien Parlamentswahlen statt. An den grauen Hauswänden, die auf ihren ersten nachrevolutionären Anstrich noch etwas warten müssen, hängen bunte, blauweißrote Plakate. „Parteien sind für Parteimitglieder, das Bürgerforum ist für alle“, verkünden sie und bringen die Stimmung im Land damit auf den Punkt. Die von Václav Havel gegründete Bürgerbewegung gewinnt 49 Prozent der Stimmen und wird so mit Abstand zur stärksten politischen Gruppierung des Landes.
Doch schon wenig später gehen die kurzen Monate des Alle-ziehen-an-einem-Strang zu Ende. Das Bürgerforum zerfällt in drei verschiedene Parteien, für die am straffesten organisierte, die konservative Bürgerpartei (ODS) von Václav Klaus, stimmen bei den nächsten Parlamentswahlen im Juni 1992 rund 30 Prozent der TschechInnen. Daß der Wirtschaftswissenschaftler bis kurz vor der Wende Distanz zu den damaligen Dissidenten hielt, spielt nun keine Rolle mehr. Diejenigen, die die Bürgerbewegung erhalten wollen – Jiří Dienstbier und andere Mitglieder der Charta 77 – scheitern an der Fünfprozenthürde. Nach weiteren zwei Jahren sagt Václav Havel: „Es besteht die Gefahr, daß wieder eine Situation wie in der ersten Republik [1918–38, Anm. d. Red.] entsteht, wo alles in den Händen der Parteien war, alle Entscheidungen nur nach Parteigesichtspunkten gefällt wurden.“
Nun wäre diese Äußerung des Präsidenten wohl ebenso schnell wie viele andere vergessen worden, wenn sie nicht einer Diskussion neuen Auftrieb gegeben hätte, die die Tschechische Republik seit Monaten beschäftigt. In ihrem Mittelpunkt steht ein Streitobjekt mit dem nicht gerade eingänglichen Namen „Höhere regionale Selbstverwaltungseinheiten“, zwischen Staat und Gemeinde soll – so die Bestimmung der tschechischen Verfassung – eine dritte parlamentarische Ebene geschaffen werden.
Doch obwohl diese Verfassung fast zwei Jahre in Kraft ist und obwohl bei den Kommunalwahlen am 18. November ursprünglich auch die Abgeordneten der neuen Regionalparlamente gewählt werden sollten, hat Ministerpräsident Václav Klaus die Entscheidung über die Bildung der Regionen immer wieder verzögert. An den Gründen hierfür gibt es für seine Gegner aus der ehemaligen Bürgerbewegung keinen Zweifel: Die stärkste Partei des Landes fürchtet eine Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen, will verhindern, daß sich auf regionaler Ebene eine Zusammenarbeit jenseits aller Parteigrenzen entwickelt. Die Diskussion über die Einführung der regionalen Selbstverwaltung machen die ehemaligen Dissidenten daher zu einer Neuauflage der Diskussion über Selbstverwaltung und civil society.
Erster Höhepunkt dieser Debatte ist das direkte Aufeinandertreffen ihrer beiden Hauptprotagonisten. Im Mai dieses Jahres diskutieren Václav Klaus und Václav Havel in einer Fernsehsendung über gemeinnützige Organisationen. Eindringlich wie schon lange nicht mehr macht der Präsident Havel dabei deutlich, daß er die Entwicklung einer civil society als die „Hauptaufgabe unserer Zeit“ sieht. Solch eine „Bürgergesellschaft“ gäbe den Menschen die Möglichkeit, „Verantwortung für soziale Prozesse“ zu übernehmen, ein „Solidaritätsgefühl zu entwicklen“ und somit eine „erfülltes, vielseitiges Leben“ zu führen. Die regionale Selbstverwaltung könnte zu einem Verbindungsglied zwischen dem Mikrokosmos des einzelnen und dem Staatsapparat werden. Ministerpräsident Klaus sieht in diesem Verbindungsglied statt dessen eine neue bürokratische Ebene. Wieder einmal würden die Ex-Dissidenten nach einem „dritten Weg“ suchen: „Wir wollen ein Marktsystem ohne Attribute, ein standardisiertes System politischer Parteien ohne Nationale Fronten und Bürgerbewegungen.“ Polit-Reisenden aus dem Westen wirft Klaus vor, die civil society in Tschechien zu propagieren, „weil sie hier die einmalige Gelegenheit haben, etwas anderes als das individualistische System aufzubauen“. Den Kämpfern für regionale Selbstverwaltung gehe es nicht um eine Dezentralisierung des Staates, sondern um die Vertiefung der Polarität zwischen Staat und Bürger. Klaus: „Ich befürchte, daß civil society mehr ist als eine Gesellschaft freier Bürger. Ich befürchte, hier handelt es sich um einen gewissen Typ des Kollektivismus.“ Das Konzept der civil society akzeptiert der ODS-Vorsitzende lediglich für die Zeit vor der politischen Wende. Damals hätte die Opposition eine parallele Gesellschaftsstruktur aufzubauen versucht, um die Kommunistische Partei an der uneingeschränkten Machtübernahme zu hindern. Fünf Jahre nach der Wende macht seine Partei sich dagegen über die Einschränkung des elementarsten Rechts des Bürgers Gedanken: Diskutiert wird, ob das Wahlrecht nur demjenigen tschechischen Bürger gewährt werden soll, der in Tschechien auch Steuern zahlt.
Die „Geister“ der beiden Politiker scheiden sich so nicht erst bei der Bürgergesellschaft, sondern bereits beim Begriff des Bürgers. Während Klaus diesen als ein „freies Individuum mit gewissen universalen Rechten“ sieht, erweitert Havel seine Definition: Der Bürger sollte nicht nur seine Rechte in Anspruch nehmen, sondern sich auch an öffentlichen Angelegenheiten beteiligen, Verantwortung übernehmen. Dies sei für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft genauso wichtig wie die Freiheit.
Die Diskussion über die civil society bleibt jedoch nicht allein auf dem abstrakten Niveau, sondern wendet sich auch dem konkreten Thema der Fernsehsendung, den gemeinnützigen Organisationen, zu. Welche Bedeutung Havel einer gesetzlichen Regelung der Tätigkeit solcher Vereinigungen zumißt, wird bereits daran deutlich, daß er sie in seiner Neujahrsansprache 1994 von der Regierung Klaus einforderte. Seiner Ansicht nach sollen die Gemeinnützigen von Steuerabgaben befreit werden und vor allem in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung und Soziales tätig sein.
Gegen solch humanitäre Tätigkeit kann der Ministerpräsident nun natürlich wenig einwenden. Klaus versucht jedoch, die immer wieder verschobene Verabschiedung der gesetzlichen Regelung mit den Schwierigkeiten bei der Definition der „Gemeinnützigkeit“ zu erklären. Zugleich kritisierte er, daß in der Öffentlichkeit die Meinung vorherrscht, Vereine und Bürgerinitiativen seien „etwas Besseres“ als „gewinnorientierte“ Einrichtungen und Parteien. Der ehemalige Finanzminister offensiv und polemisch: „Die Anhänger der Gemeinnützigen meinen, sie wissen am besten, was für die Gesellschaft gut ist, während die Profitorganisationen angeblich das Geschäft des Teufels betreiben.“ Die politische Arbeit soll nach Klaus weiterhin fast ausschließlich von politischen Parteien geleistet werden, nur in kleinen „überschaubaren“ Gemeinden könne man auch auf unabhängige Kandidaten zurückgreifen. Die Begründung: Allein Parteien sind in der Lage, ein umfassendes Programm zu formulieren, zu viele Unabhängige würden zur „Verdunkelung“ des politischen Geschehens beitragen, da niemand wisse, welche Ziele sie eigentlich verfolgen.
Spätestens an diesem Punkt wird klar, daß die Debatte um die civil society gar keine ist. Denn weder Václav Klaus noch all die anderen Autoren, die in unzähligen Zeitungsartikeln seine Positionen stützen, sind bereit, sich auf die Argumente Havels einzulassen. Daß es in der Tschechischen Republik auch ohne ein entsprechendes Gesetz bereits eine Reihe von Organisationen gibt, die sich gemeinnützigen Zwecken widmen, interessiert sie ebensowenig wie die Tatsache, daß solche Organisationen in den immer wieder beschworenen standardisierten politischen Systemen des Westens eine nicht wegzudenkende Rolle spielen. Statt dessen unterstellt Klaus den Ex-Dissidenten Ansichten, die diese nie geäußert haben. Havels Forderung nach einer Beteiligung von Bürgerinitiativen am politischen Leben interpretiert er als Versuch, die kommunistische „Nationale Front“ wiederherstellen zu wollen. Havels Wunsch nach mehr unabhängigen Kandidaten bei der Kommunalwahl stellt er als Angriff auf die Parteiendemokratie dar. Deutlich werden soll: Die Anhänger der regionalen Selbstverwaltung wollen die gescheiterten Ideen der Bürgerbewegung wiederbeleben und ein anderes politisches System einführen.
Und damit hat der Ministerpräsident die Auseinandersetzung um die civil sovciety dann auch schon fast für sich entschieden. Fünf Jahre nach der Wende zweifelt die tschechische Bevölkerung die Leistung der Bürgerbewegung in der samtenen Revolution zwar – noch – nicht an. Zugleich ist sie jedoch davon überzeugt, daß die Ex-Dissidenten nach den ersten Parlamentswahlen 1990 die Zeichen der Zeit verkannt haben und das Konzept eines dritten Weges bis heute hochhalten. Dagegen ist es Václav Klaus mit seinem ökonomischen Konzept gelungen, Tschechien zum Musterland des ehemaligen Ostblocks zu machen. Warum, so die verständliche Frage der TschechInnen, sollte sein politisches Konzept also falsch sein? Die Niederlage der Bürgerbewegung scheint ihr auch Jahre danach bei der Auseinandersetzung um alternative politische Konzepte keine Chance zu lassen.
Andererseits sind Havel und Co. an der sich anbahnenden zweiten Niederlage nicht ganz unschuldig: Zum einen haben sie sich nie die Mühe gemacht, die polemischen Zuspitzungen des Ministerpräsidenten wieder zurückzustutzen. Zum anderen aber, und dieser Punkt ist der eigentlich entscheidende, scheint das Konzept der Bürgergesellschaft an den Bürgern selbst zu scheitern. Für die TschechInnen ist es derzeit wichtiger, Geld zu verdienen, als Politik zu machen. Bereits bei den Kommunalwahlen war es nicht möglich, die 80.000 Kandidaten für Gemeinde- und Stadträte zu finden, woher sollen also diejenigen kommen, die sich in den Regionen engagieren. Zudem stellt sich die Frage, warum die Diskussion über die Regionen fast ausschließlich von der Zentrale in Prag aus geführt wird und die eigentlich betroffenen Städte und Gemeinden sich nicht stärker zu Wort melden.
Die bisher erfolgreiche Verhinderung der Höheren regionalen Selbstverwaltungseinheiten verweist jedoch noch auf ein anderes Problem der tschechischen Demokratie. Zum zweitenmal innerhalb von nur einem Jahr scheint es Václav Klaus zu gelingen, eine gesetzliche Regelung von ungeliebten Verfassungsbestimmungen zu blockieren, bereits im Frühjahr scheiterte die Gründung des Senats, der zweiten Parlamentskammer, an der Klausschen Kompromißlosigkeit.
Nach seinem Motiv mußte dabei nicht lange gesucht werden: Die über Mehrheitswahlrecht bestimmten Senatoren wären in der Tschechischen Republik, wo bisher striktes Verhältniswahlrecht gilt, die ersten Abgeordneten gewesen, die eine direkte Bindung an ihre Wähler – und eben nicht an die Parteien – gehabt hätten. Die Aufrechterhaltung der Herrschaft seiner Partei scheint für den tschechischen Ministerpräsidenten wichtiger als die Einhaltung der Verfassung seines Landes zu sein.
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