Tausche Technik gegen Rohstoff

EU-Energiecharta vor der Verabschiedung  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) – Die russischen Ölarbeiter sind häufig auf und davon. Schon seit mehreren Monaten hat es keinen Lohn gegeben, der Bau neuer Unterkünfte kommt nicht voran. Viele Pipelines leiden an Altersschwäche oder sind von Anfang an pfuschig verschweißt. Bei Hochwasser werden nicht beschwerte Rohre hochgeschwemmt und platzen an der Oberseite auf 50 bis 70 Meter Länge auf. Allein in Westsibirien havarieren jährlich 15 bis 20 Öl- und Gasleitungen, berichtet die Zeitung Iswestija. Es gibt kein Geld, um die Anlagen instand zu halten oder gar neue Bohrungen durchzuführen. Dabei ist das Land auf den Export der Energierohstoffe angewiesen: 45 Prozent der russischen Deviseneinnahmen beruhen auf Öl und Gas.

„Tausche Technik gegen Rohstoffe“ lautete im Sommer 1990 der Lösungsvorschlag des damaligen niederländischen Premierministers Ruud Lubbers. Die westliche Industrie war sehr angetan – lagern doch etwa 40 Prozent der Welterdgasvorräte in Sibirien. Beim Erdöl sind es zwar nur sechs Prozent, aber bei der Förderung war die Ex- UdSSR in den letzten Jahren mit weit über 400 Millionen Tonnen im Jahr Spitzenreiter. Auch die Atomindustrie begeisterte sich für die Pläne, hoffte sie doch auf einen Absatzmarkt für ihre Meiler.

Aus der 1991 unterschriebenen politischen Willenserklärung ist inzwischen ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag geworden, der im Dezember in Lissabon abgesegnet werden soll. Mit von der Partie sind die GUS, die mitteleuropäischen Staaten und die EU sowie einige weitere Industrieländer. Nur die USA werden wegen der Proteste ihrer inländischen Ölförderer wohl nicht beitreten – denn der Vertrag sieht den freien Marktzugang für Energieprodukte vor. Die deutschen Steinkohlekumpel muß das nicht beunruhigen: Die hohen Bergbausubventionen sind durch den Vertrag explizit geschützt.

Die osteuropäischen Länder werden in der EU-Energiecharta verpflichtet, günstige Bedingungen für ausländische Investoren zu schaffen. Sobald die Anlagen stehen, müssen den Kapitalgebern gleiche Rechte wie Inländern gewährt werden. Gewinne dürfen vollständig ins Land der Muttergesellschaft überwiesen werden. Außerdem legt der Vertrag fest, daß die Transitländer bei Streitigkeiten nicht einfach die Leitungen zudrehen oder anzapfen dürfen – eine Reaktion auf eine Methode, die die Ukraine mehrfach praktizierte, um Rußland unter Druck zu setzen. Der Umweltschutz hingegen ist in der Charta zu einer bloßen Absichtserklärung degradiert worden.

Bisher nicht durchsetzen konnten sich die westlichen Unternehmen mit ihrem Ansinnen, bei der Erteilung von Erschließungs- und Gewinnungsrechten genauso wie heimische Investoren behandelt zu werden. Aber die Ölkonzerne haben Zeit, bis zu den Nachverhandlungen im nächsten Jahr zu warten. Schließlich erhielten sie in den letzten Jahren Einladungen zum Bohren aus aller Welt. Von Venezuela bis Indien, von Mexiko bis nach China und Vietnam – überall erschallte der Ruf nach westlichem Öl-Know-how. So hoffen die Ölmultis, mittelfristig auch in Rußland noch bessere Bedingungen vorzufinden. Denn die Rohstoffexporte des Riesenlandes sinken ständig, der Druck zum Einlenken nimmt also zu. „Nur für die Atomindustrie hat sich die Perspektive aus der Charta inzwischen verflüchtigt“, urteilt Energieexperte Lutz Mez von der Freien Universität Berlin. Es gäbe in Moskau kein Geld für neue Reaktoren, und eine Rückzahlung mit Strom dauere wegen der gigantischen Investitionen viel zu lange.

Während der russische Gasbereich bisher praktisch vollständig in staatlicher Hand geblieben ist, haben sich bei der Suche nach Öl bereits westliche Firmen engagiert. Veba Oel beispielsweise beteiligt sich seit Dezember 1993 an der Erkundung eines Ölfeldes bei Wolgograd und auch in Kasachstan bohrt der Gelsenkirchener Betrieb nach dem schwarzen Gold. Die weitaus bedeutenderen Investitionen aber sind aus den USA und Kanada zu erwarten. Firmenwagen von dort werden immer häufiger in den entsprechenden Gegenden gesichtet.