Wand und Boden
: Daten-Gebärmutter

■ Kunst in Berlin jetzt: Kellndorfer, Hilfs-Sheriffs, Saouli

„Points de Vue“ nannte Nicéphore Niépce das erste erhaltene Foto, das den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf seinen Besitz Le Gras zeigt: Eine eher flächige Abstraktion. Veronika Kellndorfer übernimmt den Titel für ihre Schau in der Galerie von der Tann. Ihr Blick fiel auf ein Fenster des Hauses der Metallarbeitergewerkschaft, das Erich Mendelsohn 1930 in der Alten Jakobstraße baute. Das Fenster ist durch einen Vorhang geschlossen, auf den die vorgebauten Querlamellen dunkle Schattenwellen werfen. Das Foto- Fenster hängt als Siebdruck auf Glas über Eck zum realen Fenster des Galerieraums, das sich meditativ im Mendelsohn-Fenster spiegelt. Steht man vor diesem und sieht durch geöffnete Türen in den nächsten Galerieraum, kehrt es wieder, jetzt allerdings in Form einer Zeichnung. Wandobjekte, offene geometrische Körper wie keilförmige Dreiecke oder aneinandergereihte, beziehungsweise ineinander verschachtelte Quader lassen sich manchmal wie Niépces erstes Foto lesen, denn je nach Standpunkt erscheinen die weiß vergipsten Pappkonstrukte fast flächig. Dann scheinen ihre schrägen Kanten den umgebenden Raum ebenfalls in Schieflage zu bringen und die irritierende Doppelung im Reiz- Reaktions-Schema verweist auf Kellndorfers aktuelle Siebdruckarbeit „Der bewegte Betrachter“ – ein Treppenhaus(-foto) im Treppenhaus des S-Bahnhofs Bornholmer Straße –, die nach Absprache vor Eröffnung besichtigt werden kann.

Bis 25.11., Di-Fr 15-18 Uhr, Liebensteinstraße 4, Dahlem

Nicht nur der Augensinn wird in der „Deputy Show“ in der Neuen Galerie der HdK angesprochen. Der „Hilfssheriff“, soll heißen Hochschulassistent in der Metallklasse, Jörg Lange, läßt nämlich ein Paar Skier über eine mit Schleifpapier belegte rotierende Scheibe kratzen. Ist das den Ohren eher abträglich, so erfreut anderes die Nase. Denn in einem weißen Sockel bewegt ein weiterer einen überdimensionalen Cognacschwenker und ein satter Brandy-Duft schwängert den Raum. Andreas Baumeiers Objekte (Spiel und Bühne) sind nicht so raumgreifend, aber ebenfalls nicht ohne Witz. „Sarkophag“: ein TV- Chassis aus Blei, wobei die Mattscheibe eine Bienenwabe ist. Ein anderer Monitor mit dem Selbstporträt das Künstlers als Videoschleife steckt im Kopfende eines Sargs, welchen die Besonderheit kennzeichnet, daß er – in einem Lichtkegelkreis stehend – zwei Paar Arm- und ein Paar Beinausbuchtungen von sich streckt. So paßt der Ideal-Mensch der Renaissance in den Kasten. Gerhard Hahn (Tonwerkstatt) stellt gewaltige rote, rissig-spröde Objekte auf. Schwarz ausgeflammt zeigt etwa der „Inhalator“ eine kryptische, technische Ton-Form, die nicht ohne suggestiven Reiz ist. Dieser kennzeichnet auch die Arbeiten Ralf Lückes (Computerwerkstatt); wobei etwa „LukeHead Chop“, fünf Leuchtständer, weniger eine Techno- als eine molekular-biologische Optik schieben. Die organischen Schneckenhaus- und DNS-Strang-Formen kennzeichnet perfekte Computergrafik mit erstaunlichen Tiefenschärfen, Farb- und Lichtverläufen.

Bis 9.11., Mi-Fr 16-19 Uhr, Grunewaldstraße 2-5, Schöneberg

Das Bildmotiv unseres Jahrhunderts schlechthin ist das Foto, welches einen Menschen zeigt, der das Foto eines anderen Menschen beschwörend und anklagend zugleich der Öffentlichkeit entgegenhält. Vermißt: Soldaten, Kriegsgefangene, zivile Bürgerkriegsopfer oder politische Gefangene. Salah Saouli stammt aus Beirut und zeigt in der Galerie Vierte Etage Paßfotos von Menschen, die seit dem Bürgerkrieg als vermißt gelten. Sein Material stammt von einer Bürgerinitiative, die die Dokumente von 3.000 verschwundenen Libanesen sammelte. Er hat einige dieser Fotos vergrößert, überarbeitet und in Leuchtkästen arrangiert. Das Stromkabel, das sie mit Licht versorgt, hängt aus ihnen heraus wie eine Nabelschnur: angeschlossen an eine imaginäre Daten-Gebärmutter gegen das Vergessen. Vielleicht scheint die Kunst-Installation tröstlicher als die Wirklichkeit. Sie basiert allerdings darauf, daß nicht nur der Künstler, sondern auch andere Menschen am „Wunderkasten“ arbeiten. Der steht als vielfaches Bodenobjekt im Galerieraum, man muß sich hinabbeugen, um durch ein Vergrößerungsglas weitere Vermißtenfotos und Schriftdokumente in ihrem Innern zu entdecken. Das Wunder besteht im Insistieren darauf, daß die Porträtierten noch leben könnten. Die Goldumrahmung, die die Bilder an anderer Stelle als „Ikonen“ deklariert, individualisiert die Fotografierten gerade gegen den Bildtitel und betrauert ihren höchstwahrscheinlichen Tod.

Bis 26.11., Mi-Sa 16-19 Uhr, Bregenzer Straße 10, Wilmersdorf

Brigitte Werneburg