Vom Sinn des Sehens

■ "Augen-Blicke zwischen den Geschlechtern", Sonntag, 13.30 Uhr, West3

„Wie man sieht“, sagt man, um zu betonen, daß etwas ganz selbstverständlich, ganz „offen sichtlich“ ist. Was man sehen kann, ist wahr; der eigene Augenschein hat die höchste Glaubwürdigkeit und die größte Beweiskraft. „Das alles habe ich gesehen“, schrieb Goya unter jeden einzelnen Stich seiner Bildserie über die „Schrecken des Krieges“, um so seinem Publikum zu versichern, wie authentisch, wie realitätsnah die dargestellten Kriegsgreuel waren.

Aber ist der Blick wirklich so objektiv und so unvoreingenommen, wie wir denken? Eine Geschichte des Sehens erzählt Christina von Braun in ihrem Filmessay „Der Sinn des Sehens“. Sie zeigt, daß das Sehen nicht ahistorisch ist, sondern daß Inhalt und Bedeutung des Blicks seit der Antike große Veränderungen durchgemacht haben. Für die Autorin ist der Blick kulturell und sexuell kodiert. Weniger das, was man geschichtlich sieht, änderte sich als vielmehr, wie man sieht.

Im antiken Griechenland galt der männliche Körper als Inbegriff eines kulturellen Ideals und wurde deshalb häufig nackt dargestellt. Der weibliche Körper versinnbildlichte für das Männerauge dagegen die ungebändigte Natur und war gefährlich. Diese Angst beschreibt der griechische Mythos der Medusa, deren Anblick Männer umzubringen vermochte. Im europäischen Mittelalter ging vom Auge Gottes der sinnstiftende Blick aus, der die Welt dadurch definiert, daß er sie betrachtet.

Erst in der Renaissance kam der Blick zwischen den Geschlechtern wieder ins Spiel, aber die Bedeutung dieses Sehens hatte sich geändert: So, wie in den Landschaftsgärten der Epoche die Natur bezwungen und zu Kultur umgeformt wurde, änderte sich auch die Anschauung des weiblichen Körpers. Anders als in der Antike erscheint in der Kunst der Renaissance nun die Frau nackt. Der bekleidete männliche Künstler – Künstlerinnen gab es offiziell nicht – war jetzt ihr Betrachter und zeigte sie als Spiegelbild seines Begehrens.

In der Zeit der Aufklärung drang der männliche Blick noch tiefer: Statt den weiblichen Leib nur als Projektionsfläche für sein Verlangen zu gebrauchen, öffnete er ihn; denn bei anatomischen Wachspuppen des späten achtzehnten Jahrhunderts leuchtete das Licht der Aufklärung direkt in den aufgebrochenen Frauenkörper.

Fotografie und Kino, die neuen Medien des neunzehnten Jahrhunderts, verkehrten die Blickrichtung abermals: Männer wie Frauen wurden vor dem Auge der Kamera zu Darstellern ihrer selbst, zugleich Subjekt wie Objekt des eigenen Sehens. Zwar war das Kino zunächst ein Männermedium, doch heute, so Christina von Braun, hätten die technischen Medien die Männer und Frauen vor und hinter der Kamera gleichgestellt und Geschlechterrollen austauschbar gemacht. In der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts sei der Blick zwischen den Geschlechtern zur Leerstelle geworden.

Christina von Brauns Film basiert auf einem Aufsatz, den sie in der Kulturzeitschrift Lettre veröffentlich hat. Die Kunsthistorikerin breitet die Bilder, mit denen sie ihren filmischen Essay erzählt, vor den ZuschauerInnen aus wie ein Biologe den Inhalt seiner Botanisiertrommel: Von den Landschaftsgärten der Renaissance zu einer Striptease-Show, von antiken Statuen zu Nachrichtenbildern aus Bosnien – wie man sieht und was man sieht, hat die Autorin mit aussagestarken Bildern illustriert.

Statt harter Schnitte verschmelzt sie die Einstellungen durch Überblendungen oder Irisblende wie im Stummfilm und imitiert so mit filmischen Mitteln den Gang einer Argumentation. Auch wenn die Bilder manchmal den Worten davonzulaufen scheinen, ist es der Autorin doch gelungen, mit sinnfälligen Bildsequenzen ihre Gedanken zu visualisieren. Das ist die hohe Schule der Filmsprache, wie sie im deutschen Fernsehen nur noch selten mit solcher Raffinesse vorgeführt wird. Tilman Baumgärtel