Nacht der langen Messer in der EU

Der Noch-nicht-Kommissionschef der Europäischen Union muß heute nacht einundzwanzig Noch-nicht-Kommissare benennen / Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Der deutsche EU-Kommissar Martin Bangemann hätte zu seinem Industrieressort gerne noch den Bereich Telekommunikation dazu – mit ein bißchen Phantasie ließe sich daraus so eine Art europäisches Zukunftsministerium machen. Allerdings schielt auf das Industrieressort auch die ehemalige französische Premierministerin Edith Cresson, die unter Industriepolitik so ziemlich genau das Gegenteil von dem versteht, was Bangemann meint, die sich aber auch vorstellen könnte, die Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa unter die Fittiche zu nehmen. Doch da hat der britische Kommissar Sir Leon Brittan die Hand drauf ...

Jede Regierungsbildung ist einfacher als das, was sich der künftige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Santer, für dieses Wochenende vorgenommen hat. Auf Schloß Senningen in Luxemburg wird heute abend die neue Kommission zusammengestellt, die ab Januar die Geschicke der Europäischen Union verwalten soll. Vier Damen und 17 Buben, von denen sich einige für Asse halten und gern König spielen würden. Auch Österreich und die skandinavischen Beitrittsländer haben ihre Kandidaten schon hingeschickt. Santer eingeschlossen, sind das 21 ehrgeizige Politiker aus 16 Ländern, die allesamt nicht gewählt, sondern ernannt wurden, und die alle auf ein möglichst einflußreiches Amt scharf sind. Der Abend könnte etwas hitziger werden und länger dauern, weshalb Eingeweihte gern von der Nacht der langen Messer reden.

Nach den edlen Grundsätzen des EU-Rechts legen die Kommissare auf dem Weg nach Brüssel ihre Nationalität ab und dienen nur noch der europäischen Sache. In der Praxis schicken die Regierungen je nach Landesgröße einen oder zwei Statthalter nach Brüssel, damit diese dort die Interessen des Heimatlandes vertreten. Wenn die wöchentliche Tafelrunde darüber entscheidet, ob beispielsweise die Subventionen für Eko Stahl mit den Wettbewerbsregeln vereinbar sind, dann ist es für Bonn schon wichtig, daß da zwei Deutsche mit am Tisch sitzen.

Noch besser ist es, wenn diese beiden Kommissare auch noch Ressorts leiten, in denen die wirklich wichtigen Entscheidungen vorbereitet werden. Das Sozialressort beispielsweise produziert zwar tapfer eine Unmenge von Erhebungen, vorausschauenden Analysen und Vorschlägen für eine gemeinsame Sozialpolitik. Aber solange die Mitgliedsregierungen der Kommission in sozialen Fragen keine Kompetenzen einräumen, gibt es auch nichts zu entscheiden.

Die Ressortverteilung gilt als Bewährungsprobe für den Delors- Nachfolger Santer, als Trainingslauf für seine Führungsqualitäten. Er muß nicht nur auf Eitelkeiten Rücksicht nehmen, sondern auch noch die Wünsche der Regierungen im Kopf haben. Frankreich beispielsweise hat schon sehr frühzeitig seine Ansprüche angemeldet, entweder Wettbewerbskontrolle, Industriepolitik, Außenhandel oder Agrarpolitik zu besetzen.

Andere Länder haben wissen lassen, was sie nicht wollen und vor allem, was sie nicht ertragen würden. Ein französischer Agrarkommissar etwa gilt als ebenso schwer vorstellbar wie ein spanischer Kommissar, der die Zuschüsse für die Regionen verwaltet. Und daß Bangemann die Industriepolitik voraussichtlich behalten darf, mag auch damit zu tun haben, daß Frau Cresson da gerne hinwollte. Das Ressort Industriepolitik war vor Jahren auf französischen Druck hin eingerichtet worden. Paris knüpfte daran die Hoffnung, die europäische Subventionspolitik von der Landwirtschaft auf die Industrie ausweiten zu können. Bangemann, der den Platz schließlich einnahm, versteht unter Industriepolitik etwas ganz anderes, nämlich vor allem Koordination und vorausschauende Analysen. Der inzwischen gescheiterte Plan, die Unternehmen der krisengeschüttelten Stahlbranche an einen Tisch zusammenzubringen und zu einer freiwilligen Produktionseinschränkung zu drängen, ist typisch.

Viel spannender ist übrigens die Frage, wie Santer die Umweltpolitik besetzt. Unbestritten beste Kandidatin ist die dänische Sozialdemokratin Ritt Bjerregard. Aber gerade das macht sie für viele so schwierig. Eine starke und von der Sache überzeugte Umweltkommissarin könnte die Europäische Union gewaltig aufmischen. Viele europäische Umweltrichtlinien sind fortschrittlicher als die meisten nationalen Gesetze. Sie werden nur nicht eingehalten. Der bisherige Umweltkommissar Joannis Paleokrassas hat das, was ihm seine Generaldirektion an Rechtsbrüchen der einzelnen Mitgliedsländer herausgearbeitet haben, in der Runde der Kommissare höchstens halbherzig vorgebracht.

Es ist nicht schwer, Beamte der Umweltdirektion zu finden, die verbittert vorrechnen, wie viele vorbereitete Verfahren wegen eindeutiger Verstöße gegen Umweltrecht von den anderen Kommissaren mit Leichtigkeit abgebogen wurden. Mit Leichtigkeit deshalb, weil der Umweltkommissar durchblicken ließ, daß er die Verletzung von Naturschutzrichtlinien, etwa beim Autobahnbau, selbst für nicht so tragisch hält. Die meisten Regierungen hätten lieber noch mal einen Paleokrassas als Umweltkommissar. Aber mit der dänische Fahne über dem Umweltressort könne Santer den versprochenen frischen Wind nach Brüssel bringen.