Barentsregion: Hilflose Helfer und Beobachter

■ Radioaktive Verseuchung durch versenkte Atom-U-Boote / Konferenz in Tromsö beschließt ein Neun-Punkte-Programm gegen künftige Katastrophen

Berlin (taz) – Zur gleichen Zeit, als sich, von der Öffentlichkeit noch unbemerkt, die Erdölkatastrophe in der arktischen Komi- Republik ereignete, tagte im norwegischen Tromsö die zweite Konferenz des Euro-Arktischen Barents-Rats. Die Außenminister der skandinavischen Länder und Rußlands unterzeichneten, begleitet vom Beifall der Diplomaten weiterer „Beobachter-Staaten“ und der EU, eine „Neun-Punkte-Erklärung“. Was dort zur gemeinsamen ökonomischen und kulturellen Entwicklung zu lesen ist, hat den Charakter frommer Absichtserklärungen. Der ökologische Teil aber liest sich wie ein Katastropheneinsatzplan und zeigt, daß die konventionelle, militärische Sicherheitsdoktrin durch eine erweiterte, ökologisch fundierte Strategie ersetzt werden muß.

Schon im Frühjahr hatte die Barents-Euroregion, der die drei nördlichen Provinzen Norwegens, das schwedische Norrbotten, die finnische Provinz Lappland und die russischen Gebiete Archangelsk, Murmansk sowie die rußländische Republik Karelien angehören, ein arktisches Umweltschutzprojekt, den „Rovaniemi-Prozeß“, beschlossen. Jetzt in Tromsö ist von der Aufstellung einer „taske force“ die Rede, davon, sofort die „Bereitschaft“ gegenüber Nuklearunfällen und Ölkatastrophen zu stärken. Radioaktive Verseuchung und Ölverschmutzung sollen verhindert, die Artenvielfalt der arktischen Region gewahrt, unberührte Gebiete samt der einheimischen Bevölkerung geschützt werden. Vom Austauch von Informationen ist die Rede, von Monitoring und spezialisierter Hilfe.

So vernünftig sich die Programmpunkte anhören – sie sind auf verzweifelte Weise der Lage unangemessen. Es genügt ein Blick auf die von Greenpeace herausgegebene Gewässerkarte der Barentssee. Eine Unzahl schwarzer Kreise bezeichnet die Orte, wo im Verlauf zweier Jahrzehnte die sowjetische Marine versenkte, was an strahlendem Müll so anfiel. Zum Beispiel im Golf von Abrosimow: 650 Container, ferner Teile von vier havarierten Atom- U-Booten mit insgesamt acht Reaktoren, davon drei mit dem gesamten radioaktiven Brennstoff. Alexander Emejanenkow, ehemals Abgeordneter für Archangelsk, weiß, daß insgesamt 23 Schiffsreaktoren auf dem Grund der Barentssee liegen. Gegenwärtig warten 60 bis 80 Atom-U-Boote in den Häfen von Murmansk und der Halbinsel Kola darauf, „entsorgt“ zu werden. Bis zum Jahr 2000 werden es 150 sein.

Die Meereszone ist ebenso militärisches Sperrgebiet wie die beiden Inseln von Nowaja Semlja, die atomares Testgelände waren. Illegal gelandete Greenpeace-Aktivisten bekamen an einem Tag mehr Strahlung ab, als sich Röntgenologen in einem Jahr einfangen dürfen. Auf der Tschuktschenhalbinsel gegenüber Nowaja Semlja haben sowjetische Ärzte festgestellt, daß die Krebsmortalität zehnmal höher als der Landesdurchschnitt ist, daß praktisch 100 Prozent der Bevölkerung an Tuberkolose leidet. Nach Meinung der Spezialisten eine Folge der Nuklearstrahlung. Doch selbst die dringendste Soforthilfe wird die Finanzkräfte der beteiligten Regionen übersteigen. Die EU wird sich künftig nicht auf die Rolle eines Beobachters beschränken können. Christian Semler