Rußland hat zuviele ungelesene Dichter

■ Alexander Solschenizyn kritisiert vor dem russischen Parlament die Regierung und fordert, daß das Land von seinen Regionen aus regiert werden müsse

Moskau (taz) – Dichtende Russen gibt es zuhauf. Überhaupt galt der Dichter als das Maß aller Dinge schlechthin. Doch während die Russen früher Literatur lasen, lesen sie heute lieber japanische Gebrauchsanweisungen oder entschlüsseln Verfallsdaten auf arabischen oder griechischen Lebensmitteln. Ein Kuriosum: Siebzig Jahre lang schmuggelten Schriftsteller, die wirklich etwas zu sagen hatten, ihre Manuskripte in den Westen. Heute, da man keine Zensur, aber auch kein literarisches Interesse mehr kennt, wandern Disketten ungehindert wohin auch immer. Den Russen gilt die zeitgemäße Poesie und Prosa nichts mehr. Für sie heißt es, Geld zu verdienen.

Und so war auch die Rede, die der aus dem amerikanischen Exil heimgekehrte Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenyzin vor dem russischen Parlament hielt, der russischen Öffentlichkeit keine größere Aufmerksamkeit wert. Die Duma gönnte sich eine erbauliche Stunde und lud sich die Ikone ein. Die sich dann auch prompt selbst entweihte, den Neues war von Solschenyzin nicht zu hören. Schließlich hatte er seit seiner Rückkehr in diesem Frühjahr oft genug seine Ansichten über das Schicksal des „verlorenen Rußland“ kundgetan. So kritisierte der Schriftsteller einerseits erneut die Jelzin-Regierung als Oligarchie, warnte die Abgeordneten aber andererseits davor, den Konflikt mit eben dieser Regierung fortzusetzen. Was von diesen mit höflichem Beifall bedacht wurde. Obwohl sie soeben den Präsidenten und seinen Premierminister Tschernomyrdin mit einer Resolution scharf kritisiert hatten. Wieder einmal forderten sie den Umbau der Regierung.

Eine halbwegs klare Forderung hatte der Schriftsteller lediglich in bezug auf die Struktur der Regierung des Landes. Die Kompetenzen der Regionen müßten erweitert werden, ein Land wie Rußland könne nicht allein von Moskau aus regiert werden. Danach ritt der Individualist dann noch eine erneute Attacke gegen die Parteien, die das Volk zum „Material für Wahlkämpfe“ degradieren. Der Führungselite hielt er vor, im August 1991, als der kommunistische Putsch gegen den damaligen Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, niedergeschlagen wurde, eine große Chance vertan zu haben. „Weil damals die alte Nomenklatura die Farbe gewechselt hat, aber auf ihren Posten blieb, werden die Reformen in Rußland noch zehn bis 20 Jahre dauern“, sagte er voraus. Parlamentschef Iwan Rybkin verabschiedete den Redner mit den Worten: „Vielen Dank für Ihre Überlegungen.“ Klaus-Helge Donath