Sanssouci: Nachschlag
■ „Das Kaufhaus ,Römischer Kaiser‘ ...“ im theater 89
Der Nabel der Welt ist Erfurt. Nur von hier aus liegt Rostock noch im Norden und Düsseldorf im Westen. Nur hier sehen Bäcker noch aus wie Bäcker, nur hier ist Schönheit nicht gleich Disneyland – nur hier steht die Zeit still. Allenfalls die Bezeichnungen ändern sich. Das Kaufhaus „Römischer Kaiser“ beispielsweise heißt momentan „Hertie“. Und die Dimensionen werden kleiner, je älter das Auge ist, das auf die Dinge blickt. Erfurt ist der Ort der Kindheit schlechthin. Und Erfurt ist das Synonym für Ostdeutschland. So gerät Reinhard Lettaus Spurensuche auf den Wegen seiner Geburtsstadt unweigerlich zur deutsch-deutschen Bestandsaufnahme: Authentisch ist, was noch nicht Westen ist. „Rückkehr nach Erfurt“ lautet der Untertitel des Theaterabends nach Texten des 65jährigen Schriftstellers und Germanisten, den Bernd Weißig und Christian Steyer eingerichtet haben – kurze, liebevolle Beobachtungen der Absurdität des Daseins als einheimischer, emigrierter und zurückgekehrter Thüringer.
„Warum hat der Sozialismus verloren“ fragt einer im Off. „Weil er so häßlich war“, antwortet eine. „Und warum hat die Freiheit verloren?“ – „Weil sie so schön ist.“ Dann bricht die Wellpappewand auf der kleinen Bühne des theaters 89, fünf Augenpaare blicken unglücklich durch fünf Fenster, Zugfenster, im Bühnenhintergund spielen Topftannen Thüringischer Wald, und die Musiker (die Regisseure sowie Volker Schlott) markieren Fahrgeräusche. Johannes Achtelik und Isabel Neuenfeldt sprechen Lettaus kurze Texte, abwechselnd oder dialogisch. Sie machen fassungslose Gesichter dazu, was sehr komisch wirkt. Einmal kommt Neuenfeldt aus ihrem Verschlag auf die Bühne vor und fällt sogleich strampelnd zu Boden. Achtelik muß sie mit einem Seil wieder ins sichere Pappmachéabteil ziehen. Die Ironie rettet den Abend vorm Heimatkitsch, aber die Pausen zwischen den Texten, die zuweilen musikalisch unterbrochen werden, ersticken auch jede andere Deutung. Vom Hänschen klein und groß wird gesungen, ein Kanon gehechelt und gekeucht, dann wieder Stille. Ein beschaulicher Abend, aber das, was zu beschauen wäre, verschwimmt am Horizont. Und die Ewigkeiten zwischen den akkuraten Sprechparts schüren den Verdacht, daß Erfurt vielleicht doch nicht der Nabel der Welt sei, sondern ihr Ende, daß vom Ende der Kindheit die Rede sein sollte – aber niemand wußte, wie man's dem Kinde sagen soll. Petra Kohse
„Das Kaufhaus ,Römischer Kaiser‘, das momentan ,Hertie‘ heißt. Rückkehr nach Erfurt“. Weitere Aufführungen: heute, am 1.-3., 27.-29.11., 20.30 Uhr, theater 89, Torstraße 216, Mitte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen