Regieren? Eine Frau kann das auch

Gesichter der Großstadt: Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (52) will gegen den Partei- und Fraktionschef der SPD, Ditmar Staffelt, als Spitzenkandidatin für die nächsten Wahlen antreten  ■ Von Kordula Doerfler

Eine, die von sich sagt, persönlicher Ruhm sei ihr nebensächlich, will hoch hinaus. Was seit Monaten schon als Gerücht durch die Hinterzimmer geisterte, ist zum Erstaunen vieler Genossen eingetreten. Ingrid Stahmer, Sozialsenatorin in der Großen Koalition, will gegen Partei- und Fraktionschef Ditmar Staffelt als Spitzenkandidatin für die nächsten Wahlen antreten. Der Herausgeforderte schweigt und läßt beleidigt erklären, im Sinne demokratischer Prinzipien begrüße er die Kandidatur. Noch ist nichts entschieden, erst Anfang Februar will die SPD ihren Spitzenkandidaten für die Wahl zum Abgeordnetenhaus bestimmen. Doch in der traditionell zerstrittenen Berliner SPD brodelt es, zumal erstmals das Zugpferd durch eine Urabstimmung gekürt werden soll.

Lange habe sie sich selbst befragen müssen, ob sie wirklich ein solches Amt anstrebe, sagt die 52jährige. „Ich bin seit 30 Jahren Sozialpolitikerin mit Leib und Seele und mußte erst einmal herausfinden, ob ich nicht lieber bei der Fachpolitik bleibe.“ Über die Qualitäten des angeschlagenen Parteivorsitzenden schweigt sich Stahmer wohlweislich aus. Große politische Differenzen gebe es nicht, räumt sie selber ein. Wie Staffelt zählt auch sie zum linken Flügel der Partei. Was sie bewogen hat, ihre Kandidatur anzumelden? Die Anwort bleibt vage: „Ich denke, Berlin braucht jemanden, der sowohl die Auseinandersetzung nicht scheut als auch für Ausgleich sorgen kann.“ Außerdem gehe es um die Gesamtentwicklung der Stadt, darum, die Probleme der Vereinigung zu lösen. Einen Schwerpunkt ihrer Bewerbung sieht sie darin, daß sie eine Frau ist. „Wir haben in der Politik viel zu wenig Frauen. Ich möchte zeigen, daß eine Frau das auch kann.“ Und darin könnte durchaus eine Chance liegen.

Als Sozialpolitikerin gilt Stahmer als sehr kompetent. Auch in Zeiten massiver Kürzungen im Sozialetat versucht sie, zu pragmatischen Lösungen zu kommen. Die gelernte Sozialarbeiterin ist seit 1964 Mitglied der SPD, arbeitete lange in ihrem Beruf in Charlottenburg und wurde 1981 dort Sozialstadträtin. Schon zweimal war sie im Gespräch für ein Spitzenamt. Nach dem Wahldesaster der Sozialdemokraten 1985 wollten viele sie gern als Parteivorsitzende sehen. Und auch vor den darauffolgenden Wahlen im Jahr 1989 versuchten zahlreiche Genossen, sie zu überreden, gegen Walter Momper anzutreten. Doch beide Male verzichtete sie.

Der Mann mit dem roten Schal holte sie in die Kommission für die schwierigen Koalitionsverhandlungen mit der Alternativen Liste. Nach deren Abschluß berief er sie als Senatorin für Gesundheit und Soziales und als Bürgermeisterin zu seiner Stellvertreterin. Zum sogenannten Küchenkabinett zählte sie jedoch nicht, und sie hielt sich sowohl bei den quälenden Debatten um das Bündnis mit der AL als auch bei parteiinternen Flügelkämpfen zurück. Stahmer gilt als ideologisch unverkrampft – und stellte das unter Beweis, als sie die CDU-Ausländerbeauftragte Barbara John im Amt beließ.

Nach dem erneuten Debakel der SPD bei den Wahlen im Dezember 1990 war rasch klar, daß sie erneut einen Senatsposten erhalten würde. Sie wäre auch in der Großen Koalition gern wieder Bürgermeisterin geworden, doch da machte die Senkrechtstarterin Christine Bergmann aus dem Osten das Rennen.

Das gute Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl in Berlin und die schlechte Figur, die Ditmar Staffelt in den letzten Monaten abgab, machten ihr jetzt offenbar Mut. Mehrmals, so sagt Ingrid Stahmer, sei sie gefragt worden, ob sie nicht gegen Staffelt antreten wolle. Mehrere Kreisfürsten haben bereits Unterstützung signalisiert. Und auch SPD-Senatoren glauben, daß sie die bessere Kandidatin für Berlin sei. Sollte sie sich gegen Staffelt durchsetzen, dann ist Ingrid Stahmer entschlossen, den voraussichtlichen CDU-Spitzenkandidaten Eberhard Diepgen herauszufordern. Das macht sogar dessen Sprecher Michael-Andreas Butz Sorgen. Ingrid Stahmer, so konstatierte er, sei für Diepgen die größere Herausforderung. Und sie wäre die erste Frau, die in Berlin antritt, um Regierende Bürgermeisterin zu werden.