■ Dramaturgen, Wechsel etc.
: Die Schaubühne nach dem Sturm

Zum Ende dieser Spielzeit wird Dieter Sturm die Berliner Schaubühne verlassen. Der Dramaturg ist nicht nur ein „langjähriger Mitarbeiter des Hauses“, wie das in solchen Fällen immer so schön heißt, sondern er hat das Theater mitgegründet und in den gut 30 Jahren seines Bestehens entscheidend geprägt. Er war schon da, als Peter Stein 1970 mit seiner Schauspielertruppe (Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz etc.) nach Kreuzberg kam und aus dem Freien Theater am Halleschen Ufer die berühmteste Bühne Deutschlands machte.

In Berlin hatte sich die Schaubühne am Halleschen Ufer schon in der Vor-Stein-Zeit durchgesetzt. Eine Gruppe von Studenten, von denen die meisten aus der DDR kamen, spielte – vor allem in der Regie von Hagen Mueller-Stahl – sozialkritische Stücke in realistischer Darstellung. Die dezidiert linkspolitische Ausrichtung im Spielplan verlor sich im Laufe der Stein-Jahre, vom Kollektivgedanken in Organisation und künstlerischer Arbeit blieb auch nicht allzuviel übrig. Der Theatergeschichte in goldenen Lettern eingeschrieben hat sich die „kritische Regie“ von Peter Stein. In einer Inszenierung nicht nur den Text, sondern mit dem Text und diesen in Frage stellend eine ganze Epoche vorzuzeigen – das machte den Ruhm der Schaubühne aus. Ibsens „Peer Gynt“, das „Antikenprojekt“, „Shakespeares Memory“, Tschechow und Botho Strauß.

Die kunst- und kulturgeschichtliche Dimension eröffnete dem Ensemble wohl in erster Linie der Dramaturg Dieter Sturm. Er, dessen „philosophischen Blick auf das Theater“ Luc Bondy rühmte, schrieb die Geschichte der Schaubühne dauerhaft mit. Er zog mit um in den Prachtbau an Lehniner Platz, war noch am Hause, als der Zenit des Ruhmes überschritten war, als Klagen über die Mumifizierung des Theaters im Ästhetizismus laut wurden; er blieb, als Stein 1985 die Schaubühne verließ, sah Jürgen Gosch und Luc Bondy als künstlerische Leiter kommen und gehen, und seit 1992 arbeitet er mit Andrea Breth.

Wer seinem Haus nach über 30 Jahren den Rücken kehrt, setzt ein deutliches Zeichen. In diesem Fall scheint es folgerichtig. Etliche Schauspieler der alten Garde wie Otto Sander und Bruno Ganz haben die Schaubühne nach dem Weggang von Peter Stein mittlerweile verlassen. Und Dieter Sturm, der an der Schaubühne noch zwei Inszenierungen von Luc Bondy betreuen wird, plant, wie man hört, bei den Salzburger Festspielen wieder mit Stein zusammenzuarbeiten. Das alte Team tritt ab.

Das aber muß nicht das Ende der Schaubühne überhaupt bedeuten. Hier die Selbstauflösung zu prophezeien, ist Unsinn. Die Dekonstruktion ihres eigenen Mythos betreibt die Schaubühne schon seit einiger Zeit durch künstlerische Richtungslosigkeit, da bedarf es keiner prominenten Kündigung mehr. Das Theater wird weitergehen. Wie es weitergeht, ist schon lange die Frage.

Als künstlerische Leiterin zieht sich Andrea Breth, seit sie angetreten ist, eigentlich stetig zurück. Wenn das Theater bisher noch einen Hauch von Profil hatte – in dieser Spielzeit verwischte es sich völlig: Neben Soloabenden gab es nur eine abgebrochene Regie des holländischen Regisseurs Erik Vos: Goldonis „Trilogie der Sommerfrische“, eine Aufführung, die sich jetzt in vier Stunden elegisch hinzieht. Normalerweise springt die künstlerische Leitung in solchen Fällen ein, Andrea Breth tat dies nicht.

Mit Stücken von Gorki, Wampilow und Ibsen zeigte sie bisher szenenweise ihr wundervolles Talent, Begegnungen zwischen Menschen auf der Bühne etwas Magisches zu verleihen. Psychologischer Realismus in seiner dichtesten Form. Davon zehrt man aber kein ganzes Jahr. Ein jüngerer Regisseur, Matthias Gehrt, inszenierte kurz vor Ende der letzten Spielzeit eine Uraufführung: „Hotel Orpheu“ von Gabriel Gbadamosi. Gebrauchstheater auf der Unterbühne der Heiligen Hallen – ein Ansatz? Die Fortsetzung steht noch aus.

Weinen wir also nicht über den Weggang Dieter Sturms, dem eine Richtungsweisung hier ja auch nicht mehr gelang. Hoffen wir statt dessen, daß vielleicht jetzt endlich der Aufstand eines Ensembles stattfindet, das auf sein Recht pocht, in Berlin nicht nur in der Vergangenheitsform präsent zu sein. Petra Kohse