Dem Gefühlshaushalt hinterhergewinkt

Zwischen Schmalspur-Komödien und Langzeit-Ethnographien – ein Bericht vom Festival in Hof  ■ Von Mariam Niroumand

Kollege Martenstein vom Berliner Tagesspiegel, wie immer alert und um ein schnelles Wort nicht verlegen, brachte es auf den Punkt: Der deutsche Film habe das, was früher der Heimatfilm war, durch den Beziehungsfilm ersetzt, der im Moment gern eine Komödie ist.

„Der bewegte Mann“ lief zwar nicht zuerst in Hof – dem Festival, das seit zig Jahren als „Homebase“ des deutschen Films fungiert. Laut Festivalleiter Heinz Badewitz lag das an den zugepflasterten Kinostartterminen, die von den Blockbustern okkupiert sind; aber sein Regisseur Sönke Wortmann ist quasi eine Hofer Erfindung. Er und Katja „Abgeschminkt“ von Garnier haben eine ganze Milchstraße von Epigonen nachgezogen. Deren Filme heißen nun „Du bringst mich noch um“, „Freundinnen“ oder „Man(n) sucht Frau“.

Das Eigentümliche daran ist allerdings, daß sie zu ernst gemeint sind, um wirklich lustig zu sein, und zu juvenil-läppisch, um wirklich nah zu gehen. Es soll zwar „die reiche Witwe“, „den Sozialarbeiter“, „den Computer-Jerk“, „die kesse Braut“ mit Ringelstrümpfen und prä-phallischem Fingergelutsche geben – das Personal für eine deutsche Screwball-Comedy eben –, aber gleichzeitig sollen alle Charaktere plötzliche Untiefen aufweisen und irgendwie eben doch noch wenigstens mit dem Kleenex- Taschentuch einem romantischen Gefühlshaushalt hinterherwinken. Der Motor der Scherze ist gern eine etwas sauertöpfische Häme, hinter der sich, so scheint es mir jedenfalls, noch immer der Ärger auf die Achtundsechziger verbirgt, die doch versprochen hatten, es zu richten, und es dann nicht geschafft haben.

Stimmungsmäßig bedenkenlos konnte man hier meines Erachtens auch Hans-Christoph Blumenbergs schnell & preiswert produzierten „Rotwang muß weg!“ einreihen, ein hochambitionierter, erstaunlich auf filmhochschulhafte Selbstreflexivität angelegter Krimi um einen Politiker Rotwang, der aus verschiedenen Gründen eben weg muß. Im Rest des Films, der der Ermordung folgt, werden dann die Motive des Ex-Terroristen (Udo Kier), des Ex-Stasiisten (Klaus Bueb) und Rotwangs Gattin Clarissa erläutert, und zwar zum Teil direkt in die Kamera, denken Sie nur. „Jurassic Park“, Fernsehansager Denes Törzs, Kurzauftritt Brian de Palma und die Höhen und Tiefen der deutschen Filmszene (auf den Höhen sieht man Ulrich Tukur herumturnen) wurden vom Premierenpublikum mit frohem Gelächter goutiert. Dagegen ist ja auch beim besten Willen nichts einzuwenden; es war nur so überraschend. Man hatte den Eindruck, da steht jemand mit den Füßen im Münchener Urgestein des Neuen Deutschen Films, rudert mit den Armen auf eine vierte Generation zu, deren Codes und Ikonen ihm aber eigentlich völlig schleierhaft sind – und diese Unsicherheit kommt hervorragend an! Jedenfalls ließ das Ganze auf eine milde Stimmung in der deutschen Filmkritik schließen, die immerhin hier das Werk eines Kollegen zu begutachten hatte.

Dieser neue „Heimatfilm“ kann dann ebensogut auch im Ausland spielen. Ausgerechnet auf den Primetime-Platz vom Samstagabend hatte die Festivalleitung „Moondance“ von Dagmar Hirtz gesetzt, eine Romanverfilmung um zwei jugendliche irische Brüder, deren mutterloses ländliches Glück plötzlich von einer süßen kleinen Deutschen durcheinandergewirbelt wird. Man sieht sofort, daß im Roman von „Knospen“, „zarter Haut“ und so weiter die Rede war. Der pädophile Zug, der hier zum Vorschein kam, zog sich durch mehrere Festivalschienen. Kunststück, wo die Erwachsenen so zermürbt sind.

Sprechen wir von Erfreulicherem. Langzeit-Ethnographien des Inlands haben ja schon seit einiger Zeit wieder Konjunktur – wenn schon nicht in den Kinos, so doch in den entsprechenden Festival- Slots (Volker Koepps Wittstock- Aufzeichnungen touren ja zur Zeit noch durch einige Städte). In Hof nun war eine solche Langzeitstudie mit dem Titel „Irgendwie Power machen“ zu sehen, von dem man sich nicht abschrecken lassen sollte. 15 Jahre lang hat Wolfgang Ettlich einen gewissen Oliver beobachtet, den er als 14jährigen Punk traf und als deutlich sympathischeren Medizinstudenten und Vater zweier Kinder, mit dem dritten bereits am Horizont, wieder verließ.

Das heimliche Gravitätszentrum des Filmes ist das Verhältnis zwischen Oliver und seinem Vater, der mit der Ideologie des frühen Hannes Wader, gewissermaßen als Rohr im Wind seine ersten Auftritte im Film bestreitet, später dann aber von dem offensichtlichen Glück seines Sohnes mit zwei Kindern wirklich überrumpelt wird. „Irgendwie Power machen“ ist anzumerken, daß Ettlich – Jahrgang 47, heute in der Familienredaktion des Bayerischen Rundfunks – an Oliver zunächst eine gewisse Enttäuschung abarbeiten mußte: Oliver ging nicht zum Regenbogen, nicht einmal nach Wackersdorf und auch nicht in die SPD. Aber die Sache ist nicht auf Ressentiment, sondern fast auf späteren Gebrauch hin angelegt. Wen das in zehn oder hundert Jahren interessiert, kann hier nämlich studieren, wie man 1979 seine Regale strich (und daß man sie überhaupt strich!), wie man das in den Achtzigern auf gar keinen Fall mehr tat, wann die ersten Computer auftauchten und was man mit ihnen machte, wie man eine „feste Freundin“ nannte, welche Früchtebrötchen kamen und gingen – Ethnographie eben.

Dem nicht unverwandt porträtierte Alice Agneskirchner den Kontaktbereichsbeamten Hans Raulien aus Duisburg-Bruckhausen, der noch vor wenigen Jahren im Seyfried-Comic „Zopp! Stolizei!“ gerufen hätte. Bei Agneskirchner sieht man den Herbst eines Patriarchen: wie er Herrn Belhardi davon abbringt, auf Frau Illhardt loszugehen, die er im Verdacht hat, seine beiden Söhne Karem und Said zu verderben; wie er zu einer albanischen Hochzeit geladen wird, wie er Tippelbrüder im Park vom Spielplatz bugsiert, wie er schützt, mahnt, rät, sich aufspielt, sich abregt, sich eins lacht. Die Widmung an den Dokumentaristen Klaus Wildenhahn ist keine Prätention. Was man in Hof gar nicht schätzt, sind visuelle Experimente. Es gehört nun einmal zum Gout des Hauses, das unbedingt Kinofähige aus der Jahresproduktion auszusieben.

So gehören Heinz Emigholz oder Klaus Wiborny eben nicht zu den Stammgästen. Film als Rohmaterial kommt einem hier nur zu Bewußtsein, wenn einen Rhythmus, Farbe und Zuschnitt zu heftig an Fernsehen erinnern – bei der Förderungsstruktur fast die Regel – wenn Super-16mm-Filme mühsam auf 35mm aufgeblasen werden, oder wenn jemand, mainstreamig hin oder her, plötzlich eine kleine Maniriertheit an den Tag legt.

Geht es gut, kommt etwas heraus wie Dagmar Knöpfels Stifter- Verfilmung „Brigitta“, eine hauchzarte Angelegenheit, die sozusagen den Wechsel zwischen Close- up und Totale, wie ihn die Erzählung vornimmt, filmisch reproduziert. Und dies bewußt nicht auf Kodak-Filmmaterial, sondern auf dem leicht eingedüsterten, ein bleiernes und trotzdem nicht kaltes Licht erzeugenden Orwo. Das ungarische Kopierwerk, in dem Knöpfel ihr Material bearbeiten ließ, wird inzwischen zum Spottpreis verschleudert. Bei einer alten Gräfin, in Museen, auf Waldlichtungen, unter Bauern und Staatsschauspielern ist dieser Film entstanden, der mit der Fremde so vorsichtig umgeht wie mit den Zeichnungen Stifters, und nicht einmal denen wird hier Gewalt angetan.

Wenn es schlecht geht, und es ging ein paar Mal ziemlich schlecht, dann kommt Kunstgewerbe dabei heraus, tableaux vivants statt Kino – im letzten Jahr „Kaspar Hauser“, in diesem Jahr „Maries Lied“, auch so ein 19.-Jahrhundert-Setzkasten, der irgendwie Wacholdergeist auszuströmen scheint.

Gerade deshalb wollen wir nun alle beten, daß André Techinés „Les Roseaux Sauvages“ bald in unsere Kinos kommt, ein kleiner Gruß der Neunziger an Jules und Jim, vor dem „Hintergrund“ der Algerienkrise und der Pickelkrise, mit Transistorradio, einem Fluß, dem PCF-Büro und einem gewissen gelben Badeanzug.