Russisches Brot ist besser

Von den 79.000 Einwohnern Narwas sind nur 10.000 Staatsangehörige Estlands  ■ Von Klaus-Helge Donath

Mahnend, aber freundlich reicht der Polizist die Papiere zurück: „Man fährt bei uns in Estland Neunzig, wenn nicht anders ausgewiesen.“ Er spricht englisch. Ein Strafmandat verhängt er nicht.

Wohin das Auge reicht sattes Wiesengrün. Kaum eine Ortschaft liegt an der Strecke zwischen Tallinn und der russisch-estnischen Grenzstadt Narwa. Die Wolken treiben blitzschnelles Spiel. Im Nu übertünchen sie alles mit einem künstlichen Türkis. Hastiges Wolkenspiel ist typisch für Estland. Etwas Melancholisches hat es.

Kurz vor Narwa bei Silamäe wieder die Kelle: Geschwindigkeitsübertretung. Eine Lappalie, doch diesmal geht der Milizionär zur Sache. Er spricht russisch und nennt gleich seinen Preis. Die Angelegenheit zieht sich über eine halbe Stunde hin. Der Osten Estlands ist erreicht, die Kulturscheide zwischen West und Ost. Silamäe existierte während der Sowjetzeit auf Karten nicht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete man den Ort am Rande eines Uranvorkommens. Fast ausnahmslos Russen wurden hier angesiedelt. Entwurzeltes Industrieproletariat, das als Kolonisator auftrat. Eine neue Erscheinung in der Kolonisationsgeschichte.

Eine Grenze gewinnt ihre Bedeutung durch Zeitverlust. An der Stadteinfahrt nach Narwa reiht sich Lkw an Lkw, die meisten mit estnischen Kennzeichen. Nur einzeln werden die Lkws vorgelassen, um das Zentrum der Grenzstadt nicht zu verstopfen. Der Kontrollpunkt liegt mitten in ihrem Herzen. Die Zufahrt macht den zentralen Petersplatz, benannt nach Peter dem Großen, zu einem höchst ungemütlichen Ort. Bisher erheben in Narwa nur die Russen Einfuhrzölle. Ihre Baracke steht auf estnischer Seite, noch vor der Brücke über den Fluß, der der Stadt den Namen gab. Links und rechts der Straße versperren meterhohe Metallzäune den Zutritt. Passanten, die zu Fuß die Grenze überqueren, halten ein grünes Kärtchen hoch. Den „Propusk“ – eine Art Passierschein. Nach langem Hin und Her einigten sich Rußland und Estland auf dieses Verfahren. Wer auf der jeweils anderen Seite Bindungen hat, kann diesen Propusk beantragen. Jenseits des Flusses liegt die kleine Stadt Iwangorod. Früher waren beide eng miteinander verflochten. Die Narwaer hatten Verwandte und Datschen drüben, aus Iwangorod kam man zum Arbeiten nach Narwa. Trinkwasser und Energie wurden gemeinsam genutzt.

Ein kleines Mütterchen schleicht durch den Grenzposten, sie ist Russin wie 95 Prozent der Einwohner Narwas. Die Zöllner beachten sie kaum, man kennt sie wohl schon. Über ihrem Rücken hängt ein großer Beutel mit mehreren Laibern Brot. Sie ist schüchtern. Ihre Tochter lebt auf der russischen Seite. Den Grenzübertritt nutzt sie, um ihre Pension aufzubessern. Drüben kauft sie Brot, hüben verkauft sie es auf dem Markt. Ein bis zwei estnische Kronen Gewinn macht sie dabei pro Laib. Selbst Stadtsekretär Ants Liimets gibt zu, das russische Brot sei schmackhafter. Früher wurde man nur aus Iwangorod beliefert.

Der Sekretär in der Stadtverwaltung, die am Petersplatz residiert wie alle öffentlichen Einrichtungen, arbeitet erst seit anderthalb Jahren hier. Aus der Hauptstadt Tallinn wurde er hierher beordert. Liimets paßt nicht in das Klischee eines Esten. Ein „echter“ Este nämlich schweigt. Liimets dagegen hört sich gerne reden. Das Gebäude der Stadtverwaltung wird innen gerade renoviert. Die Schilder an den Amtsstuben tragen fast ausschließlich estnische Namen. „Beamte müssen Estnisch beherrschen“, meint Liimets. „Nur sehr wenige können das im erforderlichen Umfang.“ Um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, müssen Russen einen Sprachtest ablegen. 1.800 Wörter sollten sie aktiv beherrschen. „Ist das wirklich zuviel verlangt?“ schmunzelt Liimets. Auf die Sprache scheint er großen Wert zu legen. Im Restaurant „Martens“ vergleicht er sofort die Speisekarte. Sie ist zweisprachig, wie das Gesetz es verlangt. „Vor drei Monaten noch strotzte sie von Fehlern, jetzt läßt sie sich lesen!“ meint er mit Genugtuung und wendet sich dem Ober auf estnisch zu. Der ist Russe wie alle im Lokal und versteht. „Es tut sich was“, sagt der Sekretär. Noch vor einem Jahr hätten Verkäuferinnen so getan, als verstünden sie kein Wort. Der von Tallinn ausgeübte Anpassungsdruck zeitigt Folgen. Doch von den 79.000 Einwohnern Narwas sind nur 3.500 estnischer Nationalität.

Die Möglichkeiten, die Sprache zu praktizieren, sind daher gering. Sprächen Russen untereinander estnisch, würde das lächerlich wirken. Die Medien der Stadt, Narwa Radio und die dreimal wöchentlich erscheinende Lokalzeitung, bedienen sich des Russischen. Nur in einer Schule Narwas findet Vollunterricht in der Landessprache statt. Nicht mehr als 222 Schüler nehmen das wahr. Narwa ist eben eine russische Stadt.

Herr Efadejew, der junge Direktor des Historischen Museums auf der Hermannsburg, dem Wahrzeichen Narwas, ist in Besitz der estnischen Staatsbürgerschaft. Seine Mutter ist Estin, der Vater stammte aus Rußland, seine Frau ist Russin mit estnischer Staatsbürgerschaft. „Einfache Leute haben hier kolossale Probleme und leben unter einem permanenten Streß, weil sie nicht genau wissen, unter welchen Bedingungen sie die estnische Staatsbürgerschaft erhalten können“, sagt er. 10.000 Einwohner haben immerhin schon die estnische, 14.000 noch die russische Staatsbürgerschaft. Der Rest ist staatenlos, entweder ganz oder mit abgestuften Aufenthaltserlaubnissen. „Dennoch ist die Tendenz eher positiv.“ Selbst die revanchistischen Kräfte, vertreten durch den „Bund der russischen Staatsbürger“ und den „Verband der Reserveoffiziere“, seien im letzten Jahr ruhiger geworden.

Im „Langen Hermann“, dem Turm, der über die Narwa der russischen Feste Iwangorod entgegenschaut, fehlt die Neuzeit in der historischen Ausstellung. Efadejew möchte endlich die Wahrheit sagen. Bis heute hält sich das Gerücht, die abziehenden deutschen Truppen hätten 1944 Narwa ausradiert. Doch es waren die heranrückenden Russen, die an der Stadt Vergeltung übten und mit der Vernichtung estnischen Kulturguts ein Exempel statuieren wollten.

Von der einst barocken Stadt stehen so nur noch vereinzelte Gebäude. Ihre Fassaden sind heruntergekommen, der ockerfarbene Anstrich hinterläßt eine Ahnung der verfallenen Pracht. Das alte Rathaus sieht wie verlassen aus. Langsam zerbröckelt die Steintreppe. Das Stadtgesicht prägen jetzt dreistöckige Wohnhäuser aus der Chruschtschow-Ära, wie sie in jeder beliebigen Stadt stehen. Nur ein Gebäude sticht hervor. Das einzige Hochhaus direkt am Petersplatz. Sein Dach krönt ein eigenwilliger Betonkubus. Drunter liegen Wohnungen. Zu Sowjetzeiten sollte es die Stadt mit Wasser versorgen. Die Planung ging fehl, nie wurde dieses Wasserreservoir in Betrieb genommen, wohl zum Segen seiner Bewohner.

Kürzlich mußte der Bund der russischen Bürger aus der Stadtverwaltung in den Wohnturm umziehen. Das Büro liegt im zweiten Stock. Vorbei geht es an ausgekippten Mülleimern, deren Inhalte die Ecken zieren, ausgetretenen Türen, notdürftig mit Latten vernagelt. Es stinkt. Am Nachmittag ist Vorsitzender Mischin endlich da. Er ergeht sich in Freundlichkeiten, ein Süßholzraspler aus den mittleren Niederungen der KP, der er früher als Ideologiesekretär diente. Das Büro ist überladen mit chauvinistischen Schriften und einer Kollekte zur Wiedererrichtung eines Peterdenkmals. Wie stünde es mit ihrer Loyalität zum neuen Staat, wenn sie die Staatsbürgerschaft erhielten? Er weicht aus. Seiner Darstellung zufolge sind die Probleme der Russen riesig. Dabei hatten in einer neutralen Erhebung 82 Prozent der Estlandrussen dem neuen Staat mehr Problemlösungskapazität zugesprochen als dem russischen. Selbstmitleid ist angesagt. Das Telefon klingelt. Gospodin Mischin kommt es ungelegen. Es geht um Wohnungskauf. Beachtliche Summen werden genannt. Bei den „russischen Bürgern“ sind nicht allein vaterländische Gefühle beheimatet, hier sind auch die „Neuen Russen“ zu Hause, so heißt die Immobilienfirma. Gehandelt wird mit Wohnungen der Russen in Estland. Und dabei hatte Mischin doch gerade noch beklagt, daß dies den Russen verboten sei.

Im Park harken ein paar armselig gekleidete Frauen das Herbstlaub. Dem Spaziergänger schauen sie miesepetrig und mißtrauisch hinterher. Freundliche Gesichter sind in Narwa eine Seltenheit. Etwas Bedrückendes hängt über der Stadt, eine diffuse Angst. Kann es wirklich der fehlende estnische Paß, die fehlende staatsbürgerliche Eingliederung sein?

Die Kriminalität in der Stadt ist extrem hoch. Sicherlich hat das mit der höchsten Arbeitslosigkeit landesweit zu tun. Bei der Suche nach dem Hotel springen drei Jugendliche um die Zwanzig auf den Wagen zu und reißen die Türen auf. Einer lenkt ab, die anderen schauen sich im Inneren um. Die Aufforderung, die Türen zu schließen, beantworten sie mit einem kalten Lächeln. Blitzstart mit offenen Türen. Vorm Hotel warnt ein Angestellter: „Nicht unbewacht stehen lassen! Drei Minuten, und Sie haben nur noch ein Skelett.“

Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 10 Prozent. In Tallinn dagegen bei 0,25. Allerdings geht in diese Zahl die verdeckte Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit in den großen staatlichen Betrieben nicht ein. Dann wären es auch in der Hauptstadt etwa 7 Prozent. „Jeder zehnte Bewohner Narwas hat eine kriminelle Vergangenheit“, erklärt Liimets. Das hängt mit dem alten sowjetischen Gesetz zusammen, wonach sich Straftäter mindestens 101 Kilometer von den Zentren Moskau und St. Petersburg ansiedeln mußten.

Die Esten schieben die Schuld an der Arbeitslosigkeit auch der russischen Seite zu. Für die Textilfabrik Kreenholm mit hundertjähriger Tradition seien die Baumwollieferungen aus Tadschikistan in Rußland „verlorengegangen“. Hinweise, Russen würden in erster Linie unter dieser Schlamperei leiden, hätten in Moskau keinen Eindruck gemacht. Lieber klagt man dort über die Benachteiligung der Russen in Estland. Desinformationspolitik beider Seiten verfehlt auch hier nicht ihr Ziel und treibt die Menschen aus dem Land.

Selbst das örtliche KSZE-Büro kann keine gravierenden Verstöße gegen die Menschenrechte nennen, aber Schikanen seien nicht selten. Die zweite Etage des Hotels Narwa beherbergt das Migrationsbüro. 1993 verließen 3.500 Bürger die Stadt Richtung Rußland. „Leider die Qualifiziertesten“, merkt Stadtsekretär Liimets an. Wirklich zu bedauern scheint er dies nicht.