■ Die Zeissianer in Ost und West suchen Klarheit
: Alles eine Frage der Optik

Bis vor kurzem haben die Zeiss-Arbeiter im baden- württembergischen Oberkochen falsch herum durchs Fernglas geguckt. Richteten sie ihren Blick gen Osten, entdeckten sie dort nichts als Jammerossis. Die mäkelten über ihre zusammenbrechende Industrie und die Plattmacher aus dem Westen. Dabei bekamen sie doch nicht nur neue Straßen und Telefonleitungen, sondern häufig genug auch subventionierte Arbeitsplätze – alles auf Kosten der großmütigen Wessis.

Seit ein paar Tagen aber brauchen die West-Zeissianer kein Fernglas mehr, um einen Blick auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der deutschen Einheit zu erhaschen: 1.500 Arbeitsplätze sollen in Oberkochen und an den anderen Standorten in den alten Bundesländern abgebaut werden. In Jena hingegen stehen „nur“ 600 Kollegen auf der schwarzen Liste. „Aufbau Ost – Abbau West“ hatte letzte Woche ein empörter West-Zeissianer auf sein Plakat geschrieben. Und Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Dieter Spöri heizte diese Stimmung kräftig an. Kein Weststandort dürfe für das Abenteuer in Thüringen bluten. Mit anderen Worten: Man werde sich nicht vom Osten plattmachen lassen.

Inzwischen haben die Jammerwessis sich wieder im Griff. Dieter Spöri diktierte den Journalisten am Wochenende ausdrücklich in den Block, daß er vor einem Ost-West-Konflikt warne, und schickte den Ost-Zeissianern einen Entschuldigungsschrieb. Auch der Betriebsrat des Optikkonzerns hat es geschafft, die Blickrichtung der Belegschaft in eine andere Richtung zu lenken und die Wut auf den Osten unter dem Deckel zu halten. Die Geschäftsführung habe versagt, weil sie nicht genug zur Erschließung neuer Märkte und Produkte unternommen habe, heißt es jetzt unisono auf den Betriebsversammlungen. Anti-Ost-Plakate sind seither nicht mehr aufgetaucht.

In Jena aber haben die Kollegen das wahre Gesicht der Jammerwessis sehr wohl wahrgenommen. Doch nicht nur wegen ihrer unsolidarischen Kollegen wollen sie sich gerne vom Mutterkonzern abnabeln. Auch sie halten die Geschäftsführung aus dem Westen für unfähig. Schon im Frühjahr hatten 800 Beschäftigte einen blauen Brief bekommen. Die Arbeitnehmervertretung hatte dem nur unter der Bedingung zugestimmt, daß bis Ende 1995 keine weiteren Entlassungen anstünden. Schon ein Dreivierteljahr später soll diese Vereinbarung wieder Makulatur sein. Rettung erhoffen sich viele Zeiss-Ostler ausgerechnet wieder von einem Mann aus Baden-Württemberg. Lothar Späth, Ex-Ministerpräsident im Ländle, führt die vom Westinvestor Zeiss verschmähte Jenoptik seit ein paar Jahren für die thüringische Landesregierung. Mit relativ großem Erfolg, wie die Ost-Zeissianer durch die Lupe beobachten konnten. Annette Jensen