■ FDP-Flügelkämpfe – der Berliner Vorstoß: Wer macht den Haider?
Daß Niederlagen Phasen von Besinnlichkeit auslösen können, ist bekannt. Weniger weiß man über die Befindlichkeiten in echten Existenzkrisen. Führen sie zu Panik oder setzen sie vielleicht gar kreative Schübe frei? Was beim einzelnen eher den Psychologen beschäftigt, ist bei Parteien ein Fall für den Politologen. Die bekommen derzeit jede Menge Anschauungsmaterial geliefert. Die von Existenzangst schwer gezeichnete FDP setzt enormes kreatives Potential frei: Mit den Füßen über dem Abgrund, aber die Baumwurzel noch in der Hand, fallen alle Denk- und Personaltabus. Da wird der seit Jahren fällige Vorsitzende des größten Landesverbandes in einer Nacht-und-Nebel- Aktion erledigt, da setzen sich die jüngsten Julis mit den ältesten Vorbildern, wie Werner Maihofer, zusammen, um das Liberale an den Liberalen wieder freizuschaufeln, während gleichzeitig eine Berliner Truppe um Ex-Generalbundesanwalt von Stahl sich anschickt, die letzten liberalen Überreste endgültig vom Tisch zu wischen.
Bürgerrechte versus Staatsgewalt, multikulturelle gegen nationale Gesellschaft, Frauenrechte gegen Männergewalt – wenn die FDP überleben wolle, müsse sie diese Petitessen nun endlich hinter sich lassen. Die Zukunft der FDP liege rechts von der CDU/ CSU, einer ordentlichen deutschnationalen Partei eröffneten sich ganz andere Perspektiven als dem derzeitigen Kohl-Anhängsel in Bonn. Der Beweis: Österreichs FPÖ. Vor wenigen Jahren noch kurz vor dem Aus, liegt sie nun bei stolzen 20 Prozent.
Da kann man schon neidisch werden. Und warum soll man eigentlich nicht mal vom kleinen Bruder lernen? Abgesehen davon, daß die Berliner Strategen so kleine Unterschiede der politischen Landschaft wie die langjährige Große Koalition in Wien in ihrem Kalkül völlig ausblenden, halten sie sich in der entscheidenden Frage schamhaft zurück. Wer soll ihnen den Haider machen? Man braucht nur das Personal der neudeutschen Nationalliberalen vor seinem geistigen Auge defilieren zu lassen: ein abgehalfterter Generalbundesanwalt, der überhaupt nur aus schierer FDP- Personalnot zu diesem Job gekommen war, zusammen mit Manfred Kittlaus, dem bevorzugten Troublemaker der Berliner Polizei, und als Ghostwriter Rainer Zitelmann, der sowieso pausenlos damit beschäftigt ist, nationale Erweckungsmanifeste herauszugeben – warum also nicht auch eins für die FDP?
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die FDP inhaltlich nicht mehr weiß, wozu es sie eigentlich geben soll: Dieser Berliner Vorstoß hat ihn erbracht. In ihren eigenen Apparaten gescheiterte Apologeten verschärfter Repression schreiben ein neues Manifest für die Partei des Rechtsstaates. Politik als Treppenwitz Berliner Lokalgeschichte. Jürgen Gottschlich
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