■ Bürgerrechte in der Informationsgesellschaft
: Wider die nur virtuelle Freiheit

Stell dir vor: Aus Deutschland wird eine Info-Republik und keineR blickt mehr durch. Am 25. Oktober hat Autor Falk Madeja an dieser Stellen seinem Traum, besser: seiner Träumerei von einer „Info-Republik“ Ausdruck verliehen. Er hat dabei verschiedene Debatten vermischt und lediglich Symptomverbesserungen hochgejubelt. Madeja vermischt grundsätzlich zwei Debatten: zum einen die um den praktischen Nutzen der neuen Informationstechnologien und zum anderen die Debatte um die rechtliche Ausgestaltung einer Gesellschaft, die sich unbestritten von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft wandelt. Letztere ist zudem noch zu unterteilen in eine dringend anstehende Debatte um den Schutz vor Weitergabe persönlicher Daten einerseits und andererseits eine Art Leistungsrecht gegen Gesellschaft und Staat auf möglichst allumfassende Informationsmöglichkeiten, wie Madeja es fordert.

Der praktische Nutzen mag auf den ersten Blick tatsächlich fulminant sein. Endlich keine Schlangen im Einwohnermeldeamt oder vor dem Schalter der DB. Vieles kann vom Sessel aus erledigt werden, mensch bewegt sich statt durch Straßen nur noch durch Datenkanäle, fährt statt mit dem Automobil mit dem Modem durch die Welt. Aber eben: Die Bewegung wird ja keineswegs umgangen, sondern nur entkörperlicht. Internet, individualisierter TV-Videotext und erweiterter BTX-Dienst sind lediglich Vorboten einer virtuellen Welt. In dieser wird Begegnung nicht körperlich-sinnlich gelebt, sondern technisch simuliert.

Es geht Madeja in erster Linie um Politik, um die res publica. Seiner Vision nach wird die „öffentliche Sache“ um so demokratischer, je mehr Informationen durch die Kanäle flutschen. Die von ihm angeführten Beispiele – der geheimniskrämerische EU-Ministerrat füllt einmal mehr seine Standardrolle als schlechtes Beispiel aus – sind richtig, weil sie sich auf staatliche Politik beziehen. Diese hat ohne Wenn und Aber öffentlich zu sein. Ministerien für Staatssicherheit müssen abgeschafft werden – auch wenn sie Bundesnachrichtendienst heißen. Die Sicherung der Demokratie darf nicht undemokratischen und nicht wirklich öffentlichen Kontrollen unterliegenden Ministerien übertragen werden, sondern ist Sache der Bürgerinnen und Bürger. Die sich daraus ergebenden Forderungen, liberale, bürgerrechtliche Forderungen, können weder laut noch oft genug vorgebracht werden.

Aber Falk Madeja erweitert seine Forderung nach allgemeinem Informationsfluß auf alle Teile der Gesellschaft – nicht nur auf den institutionell festgelegten und im Grunde der demokratischen Kontrolle unterliegenden Staat. Einer Plausibilitätskontrolle hält dieser Entwurf aber mitnichten stand:

Zum einen bezieht er sich viel zu oft auf Symptome, um wirklich einer tiefgreifenden „Revolution“ überhaupt das Wort reden zu können. Auch heute, mit aufgedruckten Informationen auf plastikverpackten Hähnchenschenkeln, ist es im Grunde nicht zwingend notwendig, die VerbraucherInnen mit „E222“ abzuspeisen. Dennoch passiert es. Und das hängt nicht von den Informationsmöglichkeiten, sondern vielmehr von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Die in E-Nummern codierte Desinformation beruht ja nicht darauf, daß die VerbraucherInnen ihre Hähnchenschenkelpackung nicht zur Dechiffrierung in eine Input-Einheit eines Computers stopfen können, sondern darauf, daß die Gesetzgebung es den ProduzentInnen erlaubt, solche kryptischen Bezeichnungen überhaupt auf die Packung zu drucken.

Zum anderen ist mangelnde Informationsversorgung ja nicht das vorherrschende Problem der Politik. Daß die Chlorchemie ebenso in die ökologische Sackgasse führt wie die Automobilindustrie, daß im Umfeld von Akws die Krebsrate höher ist als anderswo, daß der durchschnittliche Westeuropäer im Weltmaßstab dutzendfach zuviel Energie und Rohstoffe vernutzt – dieses Wissen ist keineswegs einer Informationselite vorbehalten. Schon heute können wir uns mit mehr Daten versorgen als uns lieb sein kann. Tatsächlich aber mangelt es doch an Politikkonzepten, nicht an Informationen. Madeja betreibt Medien-, nicht Substanzveränderung.

Innerhalb der bestehenden und sich quantitativ und qualitativ weiter ausdehnenden Datennetze ist und bleibt die Forderung nach dem „free flow of information“ konstituierend und notwendig. Den Bestrebungen etwa des Pentagon, alleiniger Verfüger über den Masterkey eines der verbreitetsten Chiffrierungsverfahren zu werden, ist selbstverständlich entschieden entgegenzutreten. Damit wäre es ihm möglich, prinzipiell alle über das Netz verschickten Daten zu lesen – andere eventuelle Besitzer würden vermutlich kriminalisiert: US- Technologie-Imperialismus. Das muß im Sinne der netzinternen, möglichst hierarchielosen Informationsfreiheit verhindert werden. Aber nicht, weil der Umgang mit Informationen dadurch demokratischer, offener würde. Sondern um zu vermeiden, daß sich Informations- und Machtstrukturen, wie wir sie auch ohne den totalen Informationsstaat bereits haben, auf die Netze umkopieren.

Daß politische Macht und gesellschaftliches Wissen – und sei es als Anhäufung personenbezogener Daten – eine Symbiose eingehen, ist ebenso banal wie richtig. Ändern würde sich bei einer Ausdehnung der Netzstruktur nur das Medium. Das Recht auf informelle Selbstbestimmung ist tatsächlich eine der wichtigsten politischen Aufgaben für Bündnis 90/Die Grünen als den Erben des Liberalismus.

Die Möglichkeiten zur Datenspeicherung, -analyse, -weitergabe und -verbindung potenzieren sich innerhalb kürzester Zeiträume. Sind hiervon schon die konventionellen Daten betroffen, wie in der Debatte um den Volkszählungsboykott deutlich wurde, kommen in Zukunft Informationsverarbeitungen ganz anderer Qualität auf uns zu: Die Gentechnik macht's möglich. Die Kartierung menschlicher Gene ist in vollem Gange, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das „Screening“, das heißt die Genomanalyse, nicht nur möglich, sondern auch – etwa zur Prüfung der Arbeitsplatztauglichkeit – zugelassen sein wird. Unter diesem Aspekt wird besonders deutlich, daß die Gleichung Freiheit=BürgerInnenrechte=Informationen eine Milchbubenrechnung ist.

Bereits heute stellt sich im Bereich der pränatalen Diagnostik die Frage, ob es nicht auch ein – ethisches, soziales – Recht auf Nichtwissen beispielsweise der eventuell auftretenden „Erbkrankheiten“ gibt. Kontextungebunden Freiheit und Information gleichzusetzen, ist eine allzu unbesonnene These.

Hier muß journalistische Aufklärung, hier müssen Gesetzesinitiativen greifen: Das Recht auf informelle Selbstbestimmung muß als Grundrecht in den Grundrechtekatalog, am Anfang des Grundgesetzes, aufgenommen werden. Mit einem Informationsterrorismus à la Falk Madeja hat das allerdings nichts zu tun. Sebastian Lovens

Vegetarier, lebt in Münster