Lauwarme Unverfrorenheit, verschuldigt

Uraufführung von Werner Schwabs „Faust“-Paraphrase in Potsdam mit Blixa Bargeld, den Einstürzenden Neubauten sowie Hans-Peter und Jennifer Minetti  ■ Von Petra Kohse

I. Der Autor:

1990 die erste Uraufführung, zweimal Dramatiker des Jahres, bis 1993 etwa ein Dutzend Stücke geschrieben, die landauf, landab gespielt wurden, Porträts und Interviews in allen Feuilletons, angeblich Rotwein zum Frühstück, mit brennendem Mantel vor einer Mauer posiert, weiter geschrieben, weiter getrunken, am Neujahrstag 1994 gestorben, vier Wochen vor dem 36. Geburtstag. Werner Schwab hätte sein Leben kaum besser erfinden können. Der Kleinbürgersohn aus Graz ist einen Heldentod gestorben. Erst rettete er die deutschsprachige Dramatik vor der Langeweile, dann sich selbst vor dem langsamen Niedergang.

„Mésalliance, aber wir ficken uns prächtig.“ Schwab reihte beliebig austauschbare Fäkaliensprachbrocken monomanisch aneinander, Amtsdeutschpervertierungen, Welt- und Selbstekel in Silben, ein Alphabet des Triebes und der Einsamkeit. Für Bernhard Minetti schrieb er eine „Faust“-Paraphrase. „Faust : : Mein Brustkorb : Mein Helm“. Aber Minetti gefiel das Stück nicht, und es wanderte in die Schublade. Ab 1993 ging's dann bergab.

II. Der Plan:

Zu Schwabs Lebzeiten sicherten sich große Häuser die großen Uraufführungen, die mittleren kauen jetzt die dramatischen Brosamen. Saarbrücken sollte schon den „Faust“ machen dürfen, aber Schwab hatte sich neben Minetti die Mitwirkung von Blixa Bargeld und dessen Band Einstürzende Neubauten gewünscht, und die sind (meistens) in Berlin. Nun liegt bei Berlin ja Potsdam. Und in Potsdam das Hans Otto Theater, kein leichter Fall.

Die Potsdamer können den Containerbau am Alten Markt, in dem das Theater aus Asbestgründen übergangsweise residiert, nicht leiden, und der Magistrat kann das Theater selbst nicht leiden – jedenfalls nicht, solange es subventioniert werden muß. Intendant Stephan Märki braucht einen Erfolg. Er hatte einen Goethe- „Faust“ angesetzt und wollte den Schwab-„Faust“ dazu. Und also geschah es. Saarbrücken ließ sich auf einen Tausch ein und brachte im September „Endlich tot, endlich keine Luft mehr“ heraus, eine Uraufführung aus dem „Königskomödien“-Band von 1992.

Und Märki engagierte Bargeld und die Neubauten, ersatzweise die zweite Minetti-Generation, Jennifer und Hans-Peter, sowie Kurt Naumann von Castorfs Volksbühne als Gäste. Ein reines Prestigeprojekt also, das mit dem Haus herzlich wenig zu tun hat und nach wenigen Aufführungen nach Hamburg transportiert wird. Regie führte, ebenfalls als Gast, Schaubühnen-Schauspieler Thomas Thieme.

Jennifer Minetti hat bereits zwei Schwab-Uraufführungen gespielt, über das Auftauchen von Hans- Peter Minetti an dieser Stelle kann man sich hingegen nur wundern. Er, ein DDR-Theaterfunktionär von höchsten Graden, dem das DDR-Theaterlexikon „politische Reife“ bescheinigt, muß sich für diesen exponierten Rehabilitierungsakt ästhetisch und inhaltlich doch um 180 Grad verdrehen, um die lustvoll-perverse Destruktivität eines Schwab-Textes zu sprechen! Eine krampfhafte Rundumgenesungsaktion an des toten Schwabs krankem Text?

III. Das Stück:

In Werner Schwabs Dramen entsteht die Handlung aus der Sprache. In „Übergewicht Unwichtig Unform“ etwa wird in einer Kneipe plötzlich „Das schöne Paar“ vom Nebentisch aufgefressen, vielleicht nur, weil die Wirtin gesagt hat: „Alle feinen Menschen sind tote Schweine ohne Schwarten, ohne einen Speck und ohne eine menschliche Wärme.“ Die Handlung ist die szenische Konsequenz der Sprache.

Ganz anders im „Faust“. Hier pfropfte der Autor seine Sprache einer klassischen Handlung auf. Es gibt tatsächlich einen Wagner, einen Mephisto, Auerbachs Keller, Gretchen tritt auf, Marthe Schwerdtlein. Und Schwab arbeitete sich recht hilflos daran ab. Teilweise assoziiert er zum Text im eigenen Sprachfluß, teilweise übersetzt er schrecklicherweise ins Schwäbische.

Statt: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“ also: „Verschuldigen Sie die meinige lauwarme Unverfrorenheit, junge Frau, aber könnten Sie mir wohl hinterhergestatten, daß ich den Ihrer Handtasche entflogenen Zettel wieder heraufhebe in die Höhe Ihrer bergenden Taschenhaftigkeit?“ Oder noch schlimmer: „Beim Himmel, dieses Kind ist schön! So etwas hab ich nie gesehn“ – „Du meine Güte: was ein Frauenzimmer / Geb's Gott: es sei noch unbewohnt“. Geschwätzigkeit oder im Doppelpunkt nicht mehr kaschierbares Unvermögen, dazwischen kleinteilige Regieanweisungen. Sogar seine Vergewaltigung hat der Dramatiker noch selbst erledigt.

IV. Das Ereignis:

Volles Haus im Hans Otto Container. Im mit Maschendraht überbauten Orchestergraben kauert, wie ein Vogel im Käfig, ein dünnasiger Greis mit rotverschmierten Lippen auf einer Holzbank: Günter Rüger, langjähriger Regisseur am Hause. Er spricht die Regieanweisungen in ein Mikrofon, das ihm wie eine weiße Kotelette am Gesicht klebt – ein mürrischer Rumpelstilz, der während des größten Teils der Aufführung unmutig die Zeit totschlägt, aber als Erzähler dessen, was dankenswerterweise szenisch nicht umgesetzt wird, zunehmend triumphiert.

Später erobert er sich auch die Bühne und führt auf spirreligen Beinen ein faunisches Tänzchen zum Klopfrhythmus der Einstürzenden Neubauten auf, um sich endlich, auf einem portablen Lift, der zum alchemistischen Laboratorium Wagners führt, von oben ins Fäustchen zu lachen. Der ist fein raus.

Die Einführung dieser „Busho“ genannten Figur zeigt eine kluge Distanz zur Paraphrase, der Rest ist stilsichere Deklamation, Theaterdonner und Geklöppel. Zwei filigrane Buchseitenumblättermaschinchen, ein riesiger, glühlämpchenumkränzter Setzkasten, in dem sich unter anderem eine Walze mit überdimensionalen gebundenen Manuskripten befindet, ist des Büchermenschen Heimstatt (Bühne: Thomas Thieme, Regina Sell).

An der Rampe steht Kurt Naumann als Der jüngere Faust, zuckt und zappelt, sagt auf und versucht – Schwabs Fehler wiederholend – der Tragödie ersten Teil hineinzulegen. Mephisto Bargeld ist da schon ehrlicher. Er stolziert über die Bühne, hält in vorteilhaften Posen inne und krächzt den Text. Mehr kann er nicht, mehr soll er nicht.

Ein Hauch von Schwab, dem Lebendigen, stolpert dann mit Jennifer Minettis Marthe über die Bühne. Keifend, geil, hysterisch und entwaffnend naiv spielt sie ein hinreißendes orgasmisches Solo mit goldenem Schminkköfferchen. Außerdem: fünf Gretchen mit halbnackten Hintern, wie ein chorisches Splittergrüppchen der vielfach geplatzten „Faust“-Inszenierung von Einar Schleef, Humorlosigkeit garantiert. Und Hans-Peter Minetti paßt ebenso wenig hierher wie ein Fremdwort-Glossar in das Programmheft einer Schwab-Inszenierung: „Libertin – Freigeist (...) maliziös – arglistig“.

Und die Neubauten bauen sich auf und wieder ab, trommeln auf zu Xylophonen umfunktionierten Pulten, die in großen Schwüngen über die Bühne spediert werden, und freuen sich sicher, daß sie dabei sind. Das alles wirkt auf der riesigen Bühne unterm Blechdach so, als ob sich ein Exzentrikerklub als gemeinsamen Selbstdarstellungsprobenraum eine Garage gemietet hätte. Nicht uninteressant, das heißt: Es ist teilweise unterhaltsam, aber man ahnt nicht mal, worum es geht.

Was da alles durch den Schwab- Wolf gedreht wurde! Wie viele Hoffnungen und Anstrengungen – schon während der Sommerpause wurde probiert. Dabei heraus kamen etliche Kommas – und ein großes Fragezeichen. Aber das Haus war voll. Und hat gejubelt. Wenigstens kurz. Ob alles auch irgendwie anders hätte laufen können? „Das Tote ist jetzt furchtbar am Leben und regiert die Luft, wie ein ganzes Land sich regieren muß“, sagt der Dichter. Und: „Nur die Form bestimmt, wie man auseinanderfällt.“

Werner Schwab: „Faust : : Mein Brustkorb : Mein Helm“. Regie: Thomas Thieme; Bühne: Thieme/ Regina Sell. Mit Sabine Arnhold, Blixa Bargeld, Marc Chung, Diana Dengler, F.M. Einheit, Dorothee Gädeke, Alexander Hacke, Susanne Kubelka, Roland Kuchenbuch, Hans-Peter Minetti, Jennifer Minetti, Kurt Naumann, Günter Rüger, M.N. Unruh und Gabriele Völsch. Hans Otto Theater Potsdam. Weitere Vorstellungen am 5./6., 16./17.11. Das Stück ist im Thomas Sessler Verlag erschienen.