„Irrenhaus wählt Chefarzt“

■ Die Nachwahlen zum russischen Parlament zeigen: Die Russen wählen keine Ideologen, sondern Propheten

Moskau/Berlin (taz) – „In einem Irrenhaus sollte man auf die Wahl des Chefarztes verzichten.“ So kommentiert die liberale Tageszeitung Segodnja den Wahlsieg von Sergej Mawrodi, Vorsitzender der berühmt-berüchtigten Aktiengesellschaft „MMM“. Ein Urteil, das der russische Ultranationalist Wladimir Schirinowski natürlich nicht teilen konnte. Da er den Wahlkampf Mawrodis unterstützt hatte, feierte er dessen Sieg nun als seinen eigenen. Der Sieg Schirinowskis bei diesen Nachwahlen zur russischen Duma heißt nun aber nicht, daß die Wähler in Mytischtschi, einer Kleinstadt bei Moskau, die rechtsradikale Ideologie unterstützen.

Zur Wahl stand das gesamte politische Spektrum Rußlands. Die russischen Neofaschisten, die „Russische Nationale Einheit“, hatten zum erstenmal einen Kandidaten aufgestellt. Früher setzte ihr Führer Barkaschow nur auf den bewaffneten Kampf gegen die „zionistische Macht“. Heute aber vertritt sein Stellvertreter Fjodorow das präzise ausgearbeitete politische Programm der Wiederherstellung der „Union der slawischen Staaten“. Dort sollte eine „russische Ordnung“ herrschen: Alle inorodzy, Fremde, sollen deportiert und die Drogenabhängigen samt allen HIV-Infizierten auf der Stelle erschossen werden.

Doch dieses politisches Programm konnte die Wähler ebensowenig überzeugen wie das der Demokraten, die den erfolgreichen Geschäftsmann Konstantin Borowoj unterstützten. Seine potentiellen Wähler seien einfach nicht gekommen, bedauert er.

Die meisten Wähler waren über fünfzig. Und sie wollten keine Demokratie, keine wirtschaftliche Freiheit, ja keine Freiheit überhaupt. Sie wollten nur eines: Geld, und zwar schnell.

Gesiegt hat der, der es ihnen versprochen hat. Sergej Mawrodi hatte seine Gläubigen betrogen. Seine Aktiengesellschaft „MMM“ zahlte unvorstellbar hohe Dividenden, und zwar aus dem Geld, das für die neuen Aktien eingezahlt wurde. Das ganze Geschäft scheiterte nicht daran, daß man den Trick durchschaut hatte. Es gab keine kapitalkräftigen Käufer mehr. Aber Mawrodi wußte, daß sein wirkliches Kapital, der Glaube an ihn, immer noch da ist.

Wie diese Wahl bestätigte, wollen viele Russen auf ihren Glauben nicht verzichten. Denn man hatte schließlich schon immer an leere Versprechungen geglaubt: einst an den guten Zar, später an Stalin und dann an Schirinowski. Dieses paternalistische Denken ist das Geheimnis des Erfolgs der Schwindler wie Mawrodi und der Demagogen wie Schirinowski. Deswegen ist es kein Wunder, daß Schirinowski Mawrodi und nicht etwa die Faschisten unterstützt hat.

Nach der Bekanntmachung der ersten Hochrechnung bildete sich eine 70 Mann lange Schlange vor dem Moskauer MMM-Office. Doch gleich danach erklärte Mawrodi, alle alten Aktien seien bis Ende Januar außer Kraft gesetzt. Die Leute, die endlich ihr Geld zu bekommen hofften, waren etwas enttäuscht. Doch sie gaben nicht etwa auf, sondern wollen nun ein Komitee gründen, um Mawrodi gegen die angebliche Verfolgung durch das „Regime Jelzins“ zu schützen.

Nach diesen Nachwahlen ist klar: Für die politische Zukunft Rußlands sind diejenigen wichtig, die die Nachwahlen in Mytischtschi boykottiert haben. Gegen die Demagogie von Schirinowski und die Naziideologie scheinen sie immun zu sein. Die Reformpolitiker in Rußland müssen nun aber eines tun: Diesen 70 Prozent der Nichtwähler eine lukrative politische Alternative vorschlagen. Sonst wird Rußland in zwei Jahren einen Psychotherapeuten und keinen Präsidenten wählen. Boris Schumatsky