Kasse zahlt auch das Pipi-Trinken

■ Oldenburger Betriebskrankenkasse prescht vor: alle Naturheilverfahren werden übernommen

Austherapiert – mit dieser Diagnose war die brustkrebskranke Elvira B. aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie aber bat noch einen naturheilkundlichen Arzt um Hilfe – nach der Eigeninterferonbehandlung verschwanden die Symptome auf Nimmerwiedersehen. „Zufall“, sagte die Kasse und zahlte die 2.500 Mark nicht. Dabei kostet jede Chemotherapie das Dreifache. Elvira B., frisch genesen, zieht vor Gericht.

Wäre Elvira B. Mitglied in der Betriebskrankenkasse der Oldenburger Energieversorgung Weser-Ems AG, müßte sie keine solchen Strapazen auf sich nehmen. Die Oldenburger und neun Betriebskrankenkassen aus Nordrhein-Westfalen nämlich werden ihre chronisch kranken Versicherten künftig kostenlos naturheilkundlich behandeln lassen – allerdings nur während eines fünfjährigen Modellversuchs und nur bei ausgesuchten ÄrztInnen mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren.

Krebs, Rheuma, Parkisonsche Krankheit, Migräne, Neurodermitis, Multiple Sklerose – alles chronische Erkrankungen, denen die Schulmedizin nicht beikommt. Diese chronisch Kranken sind es vor allem, die in ihrer Verzweiflung dann immer wieder bei der Kasse anklopfen und um die Finanzierung von alternativen Therapien bitten. Doch auch gutwillige Kassen sind vom neuen Gesundheitsreformgesetz an die kurze Leine genommen worden: Alternative Verfahren, und seien es die fast allgemein anerkannten Methoden Akupunktur, Neuraltherapie oder Homöopathie, dürfen nur im Einzelfall genehmigt werden, und erst nach der Begutachtung durch einen Gutachter. Das bedeutet für die Kassen einen großen bürokratischen Aufwand und für die PatientInnen banges Warten.

Die Oldenburger Betriebskrankenkasse der Energieversorgung Weser-Ems AG (EWE) hat nun, zusammen mit neun anderen, ein Schlupfloch im Gesundheitsgesetz gefunden: die Erprobungsregelung. Danach dürfen Kassen bestimmte Behandlungsmethoden über einen Zeitraum von maximal fünf Jahren ausprobieren, wenn sie wissenschaftlich begleitet werden. Die Oldenburger zum Beispiel arbeiten mit dem „Zentrum zur Dokumentation für Naturheilverfahren“ in Essen und der Essener Uni zusammen. Man will Erfolg und Mißerfolg bestimmter Methoden untersuchen sowie die Kosten der naturheilkundlichen Ganzheitsbehandlung.

Im Weser-Ems-Gebiet werden es 20 praktischen ÄrztInnen und sechs ZahnärztInnen sein, die fünf Jahre lang die Behandlungsmethode frei wählen können: ob Elektroakupunktur, Sauerstofftherapie, Schadstoffanalyse, Shiatsu oder Zelltherapie – egal. Nur auf der sogenannten Hufeland-Liste müssen die Verfahren stehen – sie ist Grundlage der Ausbildung zum Naturheilkundler. Dazu kann auch die Eigenharntherapie oder das Schröpfen gehören.

Warum immer erstmal die Kleinen, die Betriebskrankenkassen vorpreschen? – da muß Harald Michaelis von der Betriebskrankenkasse der Bremer Straßenbahn nicht lange nachdenken, schließlich war man vor 15 Jahren auch ganz vorn bei den Vorsorgeuntersuchungen: Die Betriebskrankenkassen haben einen direkten Draht sowohl zu ihren Versicherten als auch zur Leitung.

Ganz anders dagegen bei den großen Angestelltenkassen: Knifflige Fragen müssen die SachbearbeiterInnen von der Zentrale entscheiden lassen, individuelle Entscheidungen seien eher nicht möglich.

Auch die Bremer Betriebskrankenkassen prüfen dieser Tage, ob sie sich der Initiative der Oldenburger anschließen, erzählt Olaf Woggan vom Landesverband der Betriebskrankenkassen. Über 20.000 Bremer KlöckneranerInnen, VulkanesInnen, Mercedes-ArbeiterInnen und Beschäftigte der Straßenbahn AG dürfen also hoffen, ihr Rheuma oder ihre Schuppenflechte bald flugs und ohne bürokratischen Aufwand mit Akupunktur oder einer alternativen Salzwasser-Licht-Behandlung wieder loszuwerden.

cis