Der Wille zum Cool

Und die Lust am Text: Quentin Tarantino hat sich mit „Pulp Fiction“ endgültig als whizz-kid der Saison etabliert, und zwar sowohl bei den French Boys als auch bei Warner Brothers, der Indie-Szene und der „New York Times“  ■ Von Lisa Kennedy

Die in Blutrot gehaltene Einladung hätte korrekterweise heißen sollen: „Die Leitung der Filmabteilung des Lincoln-Centers, Miramax Film, Volvo und Entertainment Weekly haben die Ehre, Sie zur Krönung von Quentin Tarantino und der Eröffnung des 32. New York Film Festival einzuladen.“ Schließlich hatten alle, von den parfümierten Seiten der Profilfabriken bis zu den cinephilen Organen des Indie-Kinos, bereits dem 31jährigen Regisseur und seinem zweiten Film gehuldigt. Die Goldene Palme von Cannes, die er im Mai für „Pulp Fiction“ bekommen hat, hat da nicht geschadet. Und wenn noch irgend ein weiterer Beweis benötigt wurde, daß kein anderer Filmemacher in letzter Zeit ein dermaßen starkes Bedürfnis provoziert hat, zu dem Genie erklärt zu werden, das er womöglich auch ist, nehme man die New York Times vom Morgen des Krönungstages. Janet Maslin: „Schwer zu glauben, daß Mr. Tarantino, ein autodidaktisches, fast unerprobtes Talent, der seine wichtigsten Jahre in einem Videoladen verbracht hat, mit einem Werk von solcher Tiefe, solchem Witz und einer derartigen Originalität aufwarten konnte – es plaziert ihn im ersten Rang amerikanischer Filmemacher.“

Von seiner Mutter mit Filmen großgezogen – diesen nervösen, verwirrenden Exploitation-Filmen der siebziger Jahre –, war er ein Schulschwänzer, der seine Zeit mit Jobs und Theaterspielen verbrachte. Ein vielversprechender Schauspieler, der schließlich irgendwann beschloß, er würde lieber Regie führen; ein Schreiber, der seine Miete damit finanzierte, daß er Videos in Manhattan Beach, Kalifornien verhökerte – Tarantinos journey könnte, nun ja, direkt aus einem Film stammen. Sein Debüt „Reservoir Dogs“ klatschte hart gegen die Leinwand, seinerzeit bei der Premiere auf dem Sundance Festival 1992, und geriet dann mitten hinein in die aufgeregten Debatten über Gewalt im Film. Der See von Blut und der verführerisch-erschreckende Tanz des Sadismus in seinem Zentrum machten es leicht, zu vergessen oder zu verdrängen, aus welchen anderen Gründen er an einen Nerv rührte: „Dogs“ war ein reines Sprachfest mit nackter, schnörkelloser Rede; er präsentierte eine Bühne für sich ausprobierende Schauspieler, er war von einer seltenen Schönheit. Auch wenn das Bild, wie Profis mit Gewalt umgehen, noch so akkurat und intelligent war – „Dogs“ war vor allem ein „filmischer Film“.

„Pulp Fiction“, mit seinem Gangster-Blinzeln und Gangster- Gesten, ist erst recht ein solcher Film. Seine drei Geschichten, sein zusammengedrängter Zeitrahmen (alles passiert in 24 Stunden) schicken Boxer und Lover, den Killer und die Frau von seinem Boß, ein paar Adoleszenten und die abgetakeltste Version von Bonnie and Clyde in eine Welt, die nicht so sehr Unterwelt ist als eine Art Faulkner-Universum, betreten mit einer 38er. John Travolta (!) tanzt den Twist wieder, mit Uma Thurman! Harvey Keitel! Bruce Willis, ein Boxer, der sich nicht k.o. schlagen lassen will! Christopher Walken, ein sinistrer Captain Koons, an den der Boxer denkt, als er sich an seine Kindheit erinnert!

Das L.A., das Tarantinos Diebe und Mörder bewohnen, ist hermetisch abgeriegelt: Kann es sein, daß der überlegene und mörderische Vincent Vega (John Travolta) aus „Pulp Fiction“ mit dem grausamen und mörderischen Vic Vega (Michael Madsen) verwandt ist? Figuren, die in „Dogs“ nur beiläufig erwähnt werden, tauchen in „Pulp Fiction“ genauso wieder auf wie in seinen Drehbüchern für „True Romance“ oder „Natural Born Killers“. „Pulp“ ist nicht der zweite Tarantino-Film, sondern der „dreieinhalbste“, wenn man „Natural Born Killers“ dazurechnet. Tarantino gibt uns nicht einfach eine „Vision“, er spendiert uns einen ganzen Kosmos, er hat einen auteurs- touch, auch wenn er nicht hinter der Kamera steht.

„Pulp“ kann zweierlei Dinge heißen. Wenn man etwas zu Pulp schlägt, ist es nicht wiederzuerkennen. „Pulp Fiction“ hingegen waren die Schundromane, nach deren rauhem Einband das Genre seinen Titel bekam. Tarantino bezieht sich besonders auf die Schmuddelkrimis, die in der „Black Mask“- Serie der dreißiger und vierziger Jahre erschienen waren.

Die französischen Semiotechniker, die in den achtziger Jahren den Amerikanern ihre Kultur erklären wollten, sind ja inzwischen im Dschungel verloren gegangen. Aber Tarantino könnte ihren Eggheads entsprungen sein: Die Lust am Kino-Text ist wieder da gelandet, wo es gemacht wird. Sein Appeal besteht wohl darin, daß er einer Generation entstammt, die die Universitäten zwingt, gegen Hate Speech vorzugehen und Dating- Praktiken zu regulieren, aber daß er nicht dazugehört. Während dies Maßnahmen eines puritanischen Geistes sind, ist Tarantino dem prall Viszeralen zugetan. Tarantino kommt in einem Moment an, in dem der Wille zur Coolness sehr viel weniger suspekt ist als der Wille zur Gerechtigkeit. Seine harschen Monologe, in denen es von Rassismen und Sexismen nur so wimmelt, machen es dem Magazin Movieline leicht, ihn als den anti- korrekten Regisseur zu promoten – obwohl es ihm selbst wohl nicht gefallen würde, so umstandslos vereinnahmt zu werden. Street credibility? Unbedingt! „Ich bin gegen Neo-Noir und diese Sachen, weil das reines Kunstgewerbe ist, etwas für Liebhaber.“ In gewisser Weise ist Tarantino die Verkörperung amerikanischer Selbständigkeit mit einem Hauch transatlantischer Jouissance. Er ist ein natural born filmmaker.

Einige Stunden vor der Krönung auf dem New York Film Festival passierte noch etwas Lustiges. Als Tarantino gerade noch dabei war, Travolta und Willis zu präsentieren, rief Don Murphy aus Los Angeles an, einer der Produzenten von „Natural Born Killers“, um sich zu beschweren, Tarantino hätte den Entwurf und sogar ganze Sequenzen aus dem Hongkong- Film „City on Fire“ geklaut. Murphy soll sogar gesagt haben: „Ich würde Quentins Tod öffentlich feiern. Wir hatten nie einen regulären Streit, aber sein Verhalten, seitdem er Quentin Tarantino geworden ist, ist teuflisch gewesen.“ Was für ein Vorwurf! Mehr Leute als nur Tarantino selbst haben gesagt, daß den Hongkong-Film zu kopieren bedeutet, die Kopie von der Kopie zu machen, das bootleg vom bootleg. Was fehlt in „City of Fire“? Tarantinos Hyperfetisch Kino, des guten wie des schlechten Kinos, sein Rap, die wundervolle Gleichsetzung von Undercover- Jobs mit dem Handwerk des Schauspielers, die Comix-Ästhetik.

Auch sein früher Freund und Co-Autor Roger Avary (dessen Debüt „Killing Zoe“ das selbe versucht wie „Pulp Fiction“, aber mit deutlich geringerem Effekt) sagt heutzutage nicht mehr so nette Sachen über ihn in Vanity Fair: „Er weiß alles über Popkultur. Seine größte Stärke ist aber zugleich seine größte Schwäche; er interessiert sich nämlich nur für Popkultur. Das eine Problem, das Leute mit Quentins Arbeit haben, ist, daß sie nur von anderen Filmen spricht, niemals über das Leben. Dabei kommt es doch darauf an, ein Leben zu leben und dann darüber Filme zu machen.“

Die Wahrheit ist, daß Tarantino Filme zum Frühstück ißt und sie verdaut hat, bevor er bei seiner Tasse Gourmet-Kaffee angelangt ist. Abott und Costello, Brian de Palma, Howard Hawks oder Sam Fuller laufen so durch, aber auch „Philadelphia“ von Jonathan Demme („Die Szene, nachdem Tom Hanks von Denzel Washington zurückgewiesen wird, und da ist dann dieser Close-up, auf dem er so unglaublich allein ist – da sagt der Film etwas, was fünf andere Filme nicht sagen könnten“). Über Oliver Stones „Natural Born Killers“, den er angeblich noch nicht gesehen hat, sagte er neulich auf einer Pressekonferenz nur: „Ich glaube, ich werde warten, bis er in die Hotelfernseher kommt. Freunde haben mir gesagt, daß all die lustigen Sachen von mir stammen.“ Aber wie hätten diese beiden Sensibilitäten auch zusammenkommen sollen – Stone mit seinem Hang zur Bedeutsamkeit und Tarantino mit seinem Hang zum Cool?

„Pulp Fiction“. Regie: Quentin Tarantino, Buch: Roger Avary, Quentin Tarantino, Kamera: Andrzej Sekula. Mit: John Travolta, Bruce Willis, Uma Thurman, Samuel L. Jackson, Harvey Keitel, Rosanna Arquette u.a. USA 1994